Text
hat Mackay zu Dank verpflichtet. Denn er gab gleichzeitig mit seiner
Biographie eine Sammlung von Stirners noch erhaltenen kleinen Schriften
heraus.*) Die Aufsätze über das »Princip der Erziehung« und über
»Kunst und Religion« verdienen heute noch die vollste Beachtung.
Über den »Einzigen und sein Eigenthum« ist es in unseren
Tagen nicht mehr nothwendig, erklärend oder berichtend zu schreiben.
Jedem ist das Buch zugänglich, äusserlich und innerlich. Seine Worte
und Gedanken sind so lutherisch klar und eindringlich, sein Thema von
der Souveränität des Individuums, seine Unvergleichlichkeit und
Einzigkeit ist auf so festen Gründen gebaut, dass eine logische Weiter-
erklärung oder logische Bekämpfung von vornherein unmöglich scheint.
Diesem Buche sollten die beiden Essays über das Princip der
Erziehung und über Kunst und Religion als Ebenbürtig-Unvergängliches
angefügt werden. Der erste Essay behandelt die Frage: »bildet man
unsere Anlage, Schöpfer zu werden gewissenhaft aus oder behandelt
man uns nur als Geschöpfe, deren Natur bloss eine Dressur zulässt?«
eine noch immer leider actuelle Frage. Das Vergangene zu fassen,
lehrte der Humanismus, das Gegenwärtige zu ergreifen, lehrte der
Realismus. Beides führt nur zur Macht über das Zeitliche. Ewig
ist nur der Geist, der sich erfasst. Die Humanisten haben darin Recht,
dass es vornehmlich auf die formelle Bildung ankommt — darin
Unrecht, dass sie diese nicht in der Bewältigung jedes Stoffes finden;
die Realisten verlangen das Richtige darin, dass jeder Stoff auf der
Schule angefangen werden müsse, dass Unrichtige darin, wenn sie
nicht die formelle Bildung als Hauptzweck ansehen wollen. Die
Pädagogik werde denjenigen anvertraut, die mehr sind als Philosophen,
darum aber auch unendlich mehr als Humanisten oder Realisten. Die
letzteren haben den richtigen Geruch, dass auch die Philosophen
untergehen müssen, aber keine Ahnung davon, dass ihrem Untergange
eine Auferstehung folgt: sie abstrahieren von der Philosophie, um
ohne sie in den Himmel ihrer Zwecke zu gelangen, sie überspringen
sie und — fallen in den Abgrund eigener Leerheit, sie sind, gleich dem
ewigen Juden, unsterblich, nicht ewig. Nur die Philosophen können
sterben und finden im Tode ihr eigentliches Selbst; mit ihnen stirbt
die Reformations-Periode, das Zeitalter des Wissens. »Ja, so ist es,
das Wissen selbst muss sterben, um im Tode wieder aufzublühen als
Wille« Man bemerkt, dass in diesen Sätzen Stirners der Kern-
punkt der Schopenhauer-Wagnerischen Weltanschauung schon enthalten
ist. Hier ist die Idee der Brünhildentragödie in Wagners Werk, der
künstlerischen Symbolik entkleidet. Die weltbewegende, sich und die
Welt erlösende That ist der Allwisserin nur möglich, gegen das
Wissen entstehend, aus seinem Tode erblühend als Wille Man
sehe weiter, wie einzelne Grundgedanken Nietzsches und der modernsten
Geistesentwicklung hier klar auftauchen! »Das Wissen und seine Freiheit
*) Max Stirners kleinere Schriften und seine Entgegnungen auf die
Kritik seines Werkes »Der Einzige und sein Eigenthum«, aus den Jahren
1842—47. Berlin 1898. Schuster & Loeffler.
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 18, S. 679, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-18_n0679.html)