Text
war das Ideal jener Zeit, das auf der Höhe der Philosophie endlich
erreicht worden ist. Mit der Philosophie schliesst unsere Vergangenheit
ab und die Philosophen sind die Raphaele der Denkperiode, an welchen
das alte Princip in leuchtender Farbenpracht sich vollendet und durch
Verjüngung aus einem zeitlichen ein ewiges wird. Wer hinfort das
Wissen bewahren will, der wird es verlieren; wer es aber
aufgibt, der wird es gewinnen
Alles Grösse muss zu
sterben wissen und durch seinen Hintritt sich verklären (Noch
einmal die Wagnerische Idee). Das rechte Wissen vollendet sich,
indem es aufhört Wissen zu sein und wieder ein einfacher, mensch-
licher Trieb wird — der Wille« — Mit diesen Gedanken ist der
Entwicklungsdrang unserer Zeit zum Primitiven, zur Einfachheit, des
natürlich bestimmten Wesens vorausgeahnt und zugleich die Über-
nahme der geistig-seelischen Schicksale der Menschheit aus den Händen
der »Philosophen«, der abstracten Forschung in die Hände der
Künstlerdenker, dieser neuen, höchsten Geschöpfe der Menschheit,
welche berufen sind, sie durch lebendige Kunstthaten zugleich als
Denker, Künstler und religiöse Apostel, eine neue Einheit und Zusammen-
fassung und Auflösung des bisherigen Complexes von Geist, Seele und
Herz repräsentierend, den Zukunftsweg zu führen. Hören wir weiter
die Sätze Stirners aus dem Jahre 1842, die so klingen, als wären sie
von heute oder von morgen: »Etwas ganz anderes aber sind Menschen,
in denen die Totalität ihres Denkens und Handelns in steter Bewegung
und Verjüngung wogt und etwas anderes solche, die ihren Über-
zeugungen treu sind: die Überzeugungen selbst bleiben unerschüttert,
pulsieren nicht als stets erneutes Arterienblut durch das Herz, erstarren
gleichsam als feste Körper und gelten obendrein als etwas Heiliges.
So mag die realistische Erziehung wohl feste, tüchtige, gesunde
Charaktere erzielen, unerschütterliche Menschen, treue Herzen und das
ist für unser schleppenträgerisches Geschlecht ein unschätzbarer Gewinn;
allein die ewigen Charaktere, in welchen die Festigkeit nur in
dem unablässigen Fluthen ihrer stündlichen Selbstschöpfung
besteht, und die darum ewig sind, weil sie sich in jedem Augenblicke
selbst machen, weil sie die Zeitlichkeit ihrer jedesmaligen Erscheinung
aus der nie welkenden und alternden Frische und Schöpfungsthätigkeit
ihres ewigen Geistes setzen — die gehen nicht aus jener Erziehung
hervor. Der sogenannte gesunde Charakter ist auch im besten Falle
ein starrer; soll er ein vollendeter sein, so muss er zugleich ein
leidender werden, zuckend und schaudernd in der seeligen Passion
einer Verjüngung und Neugeburt. So laufen denn die Radien aller
Erziehungen in dem einen Mittelpunkt zusammen, welcher Persön-
lichkeit heisst. Das Wissen, so gelehrt und tief, oder so breit und
fasslich es auch sei, bleibt so lange doch nur ein Besitz und Eigenthum,
als es nicht in dem unsichtbaren Punkt des Ichs zusammengeschwunden
ist, um von da an als Wille, als übersinnlicher und unfasslicher
Geist allgewaltig hervorzubrechen. Das Wissen erfährt diese Umwandlung
dann, wenn es aufhört, nur an Objecten zu haften, wenn es ein
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 18, S. 680, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-18_n0680.html)