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Wissen von sich selbst oder falls dieses deutlicher scheint, ein Wissen
der Idee, ein Selbstbewusstsein des Geistes geworden ist. Dann ver-
kehrt es sich, sozusagen in den Trieb, den Instinct des Geistes, in ein
bewusstloses Wissen, von dem sich jeder wenigstens eine Vor-
stellung zu machen vermag, wenn er es damit vergleicht, wie so
viele und umfassende Erfahrungen bei ihm selbst in das einfache
Gefühl sublimiert werden, das man Takt nennt: alles aus jener
Erfahrung gezogene, weitläufige Wissen ist in ein augenblickliches
Wissen concentriert, wodurch er im Nu sein Handeln bestimmt. Dahin
aber, zu dieser Immaterialität muss das Wissen durchdringen, indem
es seine sterblichen Theile opfert und als Unsterbliches — Wille
wird Soll daher am Schluss noch einmal ausgedrückt werden,
nach welchem Ziele unsere Zeit zu steuern hat, so liesse sich der
nothwendige Untergang der willenlosen Wissenschaft und der Aufgang
des selbstbewussten Willens, welcher sich im Sonnenglanz der freien
Person vollendet, etwa folgendermassen fassen: das Wissen muss
sterben, um als Wille wieder aufzuerstehen, und als freie Person
sich täglich neu zu schaffen« Man sieht, dass Stirner in diesen
letzten Sätzen eigentlich das Wesen des Genies und der Intuition
bezeichnet und kann daraus ermessen, an welche Höhen der Menschheits-
entwicklung er gedacht haben musste, um diese Grundsätze der
allgemeinen Erziehung anzuempfehlen Von gleicher Tiefe und
Klarheit ist der Essay »Kunst und Religion«, ebenfalls im Jahre 1842
veröffentlicht. Er geht davon aus, dass der Mensch in sich selbst ein
Jenseits habe; d. h. dass er im thierischen und natürlichen Zustande
sich nicht genüge, sondern ein anderer werden müsse, für den gegen-
wärtigen Menschen sei aber wohl der andere, der er werden soll, ein
Zukünftiger, ein Jenseitiger. Diese Entzweiung des Menschen in einen
Seienden und in einen Jenseitigen ist der Beginn seiner Entwicklung.
Die Kunst schafft Entzweiung, indem sie dem Menschen das
Ideal entgegenstellt, der Anblick des Ideales aber, der so lange dauert,
bis vom unverwandten, gierigen Auge das Ideal wieder eingesogen
und verschlungen worden, heisst Religion. Darum weil sie ein Anblicken
ist, bedarf sie des Objectes, das ihm die Kunst schaffen muss. Hier
liegen alle Qualen, alle Kämpfe von Jahrtausenden; denn fürchterlich ist
es, ausser sich zu sein und ausser sich ist jeder, der sich selbst
zum Objecte hat, ohne dies Object ganz mit sich vereinigen zu können;
(wie es der Künstler vermag). Die religiöse Welt lebt in der Ent-
zweiung ihrer selbst. Zur Religion hat jeder gleiche Fähigkeit wie zum
Verständnis des Dreieckes und des pythagoreischen Lehrsatzes. Nur
der Religionsstifter ist genial, er ist aber auch der Schöpfer des Ideals,
mit dessen Schöpfung jede weitere Genialität unmöglich wird. Wo
aber der Geist an ein Object gebunden ist und alles Mass seiner Be-
wegung ihm von eben diesem Objecte bestimmt wird, wo der Geist
von einem Objecte abhängig ist, das er zu erklären, zu erforschen,
zu fühlen, zu lieben u. s. w. sucht, da ist er nicht frei, und, weil
Freiheit die Bedingung der Genialität, auch nicht genial. Eine geniale
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 18, S. 681, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-18_n0681.html)