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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 18, S. 682

Text

682 MESSER.

Frömmigkeit ist ein ebensogrosser Unsinn als eine geniale Leine-
weberei. »Ist denn nicht aber die Liebe das eigenste Wesen der
Religion, sie, die doch ganz eine Sache des Gefühls und nicht des
Verstandes ist?« Wenn sie eine Herzenssache ist, muss sie darum weniger
eine Verstandessache sein? Eine Herzenssache ist sie, wenn sie mein
ganzes Herz einnimmt; das schliesst nicht aus, dass sie auch meinen
ganzen Verstand einnehme und macht sie überhaupt zu nichts be-
sonderes Gutem: denn der Hass und Neid kann auch Herzenssache
sein. Die Liebe ist in der That nur eine Verstandessache, wobei sie
übrigens in ihrem Titel als Herzenssache unbeschädigt bleibt: eine
Sache der Vernunft ist sie nicht, denn im Reiche der Vernunft gibt
es ebenso wenig eine Liebe, als im Himmel, nach Christi bekanntem
Wort, gefreit wird Bevor das Kind verständig ist, liebt es nicht und
seine hingehendste Liebe ist nichts als — das innigste Verständnis.
(Man vergleiche diese Stelle mit einigen Sätzen aus Maeterlincks »Tresor
des humbles« über die Erkenntnisfähigkeit der Kinderseele, die inhaltlich
fast identisch mit ihr sind.) Die Liebe ist unhaltbar und unwieder-
bringlich verloren, wenn man sich in einem Menschen vollständig ge-
täuscht
hat: das Missverständnis ist dann vollkommen und die
Liebe erloschen Der Liebe ist ein Object nothwendig, ebenso dem
Verstande. Darum hört seine Wirksamkeit immer da auf, wo er
ein Object so ausgenossen hat, dass er nichts mehr daran zu thun
findet und mit ihm fertig ist. Mit seiner Thätigkeit erlischt sein Antheil
an der Sache, weil, soll er sich liebend hingeben und ihr alle Kräfte
widmen, sie ihm ein — Mysterium sein muss Die Kunst, die das Ideal
erschaffen und den Menschen damit das Object ihrer Anbetung gegeben
hat, ist die Schöpferin der Religion. Immer, wenn die Kunst in ihrer
ganzen Energie auftritt
, so erschafft sie eine Religion und
steht am Anfange derselben
. Macht die Kunst das Object, und
lebt die Religion nur in der Ankettung an das Object, so beschäftigt
sich die Vernunft, der Geist der Philosophie, nur mit sich selbst «

Von den nachgelassenen Schriften Stirners wäre schliesslich die
Entgegnung an seine Recensenten: Feuerbach, Szeliga und Hess zu
erwähnen. Er resümiert im kurzen noch einmal seine ganze Lehre
vom Einzigen und treibt in der Polemik seinen dolchscharfen Ver-
stand zu den geschicktesten und tödtlichsten Stössen gegen die philiströsen
und bornierten Widersacher. Wie unterscheidet sich das Gefühl
des Lesers nach diesen Seiten, die gleichsam im höchsten Stolze
der inneren Überlegenheit jubeln und vom geistigen Reichthume
prangen, von dem melancholischen Empfinden, das er nach der Lecture
des trostlosen Bildes dieses freudelosen Lebens empfangen, wie es ihm
Mackay gezeigt hat. Aber gerade durch diesen Vergleich, durch den
raschen Übergang aus Lebensnoth und Ärmlichkeit zu diesen klaren,
leuchtenden Gebilden des Geistes, die die Stirnerschen Schriften sind,
wird wieder der Massstab in uns hergestellt für das wahrhaft Seiende
im Leben und für die überragende Bedeutung geistiger Ziele.


Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 18, S. 682, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-18_n0682.html)