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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 18, S. 683

Text

MITTAGNACHMITTAGABEND.
Von MOOSMEE (Wien).

Es war Mittag. Sie sah aus ihrem Fenster auf das Feld.
Die Erde war bröckelig, fast grau und Kohlweisslinge sassen auf
zerfressenen und zerfransten Kohlpflanzen und sperrten manches-
mal plötzlich die weissen Flügel auf

Links von dem Kohlfelde war eine Reihe Rosenbüsche,
Rosa canina, ziemlich zerzaust, unordentlich, wie mausernde
Vögel. Ein Hofmeister würde sagen: »Siehst Du, was die Cultur
vermag!? Das ist der Ursprung unserer Centifolie.« Nun wirklich,
in diesem Falle vermochte die Cultur ziemlich viel. Ganz blass
waren diese Rosen und platt, meistens fehlten einige Blumenblätter,
welche der Sturm entführte, der Regen niederwusch oder die von
selbst abfielen wegen Unhaltbarkeit.

Die junge Dame blickte hinaus. Es war unmittelbar vor
dem Mittagessen. Hungrig war sie und doch eigentlich nicht.
»Wieder Suppe, Fleisch und Mehlspeise?! Und der Geruch des
Speisesaales: Rindsbraten, Gurkensalat, Erdbeeren und Cigaretten-
rauch. Ich danke.«

Sie starrte hinaus, merkte die Erschöpfung der Natur. »Eine
Giesskanne nehmen und ausstreuen! Jawohl; überall! Übrigens
warum?! Die Natur hält Mittagruhe. Alles ist träge, warm,
schlaff. Warum auffrischen?! In der Erschöpfung liegt Poesie,
im Warten — — auf Kräfte! Nach dem Essen lege ich mich
aufs Bett, ungeschnürt und bin dann wie die bröckelige Erde,
welche auf Regen wartet, wie die Kohlweisslinge und die Dornen-
büsche. So schlafe ich wachend. Früher schlief ich schlafend.
Das ist meine Cultur. Ist das der Mittag unseres Lebens, bitte?!
Ungeschnürt liegen, sich spüren wie etwas, das befreit ist und
dennoch nicht befreit ist! Etwas Schlafendes, das wachen möchte,
etwas Wachendes, das schlafen möchte. O Feld, o Schmetterlinge,
o Dornenbüsche! Wie ein Dichter möchte ich Euch spüren können,
als etwas Gleiches, Identisches, Congeniales. So aber spüre ich

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 18, S. 683, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-18_n0683.html)