Text
Von MAURICE MAETERLINCK.
Vom Verfasser autorisierte Übersetzung von Clara Theumann.
Man könnte sagen, dass von Jahrhundert zu Jahrhundert ein
tragischer Dichter »mit der Fackel der Dichtkunst in der Hand die
Labyrinthe des Schicksals durchschritten hat«. Sie haben so, ein jeder
nach den Kräften seiner Zeit, die Seele der menschlichen Annalen
festgehalten und dabei die Geschichte Gottes geschrieben. In ihnen
allein kann man die zahllosen Variationen der grossen unabwendbaren
Macht verfolgen, und es ist interessant, sie zu verfolgen, denn das
Reinste aus der Seele der Völker liegt vielleicht in der Vorstellung,
die sie sich von dieser Macht gebildet haben.
Nur ein einzigesmal ist sie ausschliesslich angebetet worden.
Sie war damals selbst für die Götter ein furchtbares Mysterium. Es
ist seltsam zu constatieren, dass die Zeit, in der die Gottheit ohne
Antlitz am schrecklichsten und unverständlichsten schien, die schönste
Zeit der Menschheit war, und dass es das glücklichste aller Völker
war, welches sich das Schicksal in der furchtbarsten Gestalt vorstellte.
Es scheint, dass in dieser Vorstellung eine geheime Kraft liegt,
oder dass diese Vorstellung das Zeichen einer Kraft ist. Wächst der
Mensch in dem Masse, in dem er die Grösse des Unbewussten, das
ihn beherrscht, erkannt, oder wächst das Unbewusste im Verhältnis
zum Menschen? Man möchte behaupten, dass heute die Vorstellung
vom Schicksal erwacht. Vielleicht ist es nicht unnütz, es zu suchen.
Aber wo findet man es? Das Schicksal suchen — heisst das nicht:
die menschlichen Leiden suchen? Es gibt kein Schicksal der Freude;
es gibt keinen glücklichen Stern. Jener, den man so nennt, ist ein
Schicksal, das sich geduldet. Es ist übrigens wichtig, dass wir manchmal
auf die Suche nach unseren Kümmernissen gehen, um sie zu kennen
und zu bewundern, selbst wenn wir an ihrem Ende nicht die grosse
unförmige Masse unseres Schicksals finden.
Es ist dies die wirksamste Art, auf die Suche nach seinem
eigenen Ich zu gehen; denn man kann sagen, dass wir nur das sind,
was unsere Unruhen und unsere Schwermuthsstimmungen sind. Je mehr
wir vorschreiten, desto tiefer, edler und schöner werden sie, und
Marc Aurel ist der bewunderungswürdigste der Menschen, weil er
besser als irgend jemand begriffen hat, was unsere Seele in das kläg-
liche resignierte Lächeln gelegt hat, das wohl auf ihrem Grunde ruht.
Dasselbe gilt von den Kümmernissen der Menscheit. Sie gehen einen
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 18, S. 685, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-18_n0685.html)