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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 18, S. 686

Text

686 MAETERLINCK.

Weg, der dem unserer Kümmernisse ähnlich ist; aber er ist länger
und sicherer und führt wohl in Länder, welche nur die zuletzt Ge-
kommenen kennen werden. Er geht auch vom körperlichen Schmerz
aus, hat die Furcht vor den Göttern durchkreuzt und verliert sich
heute vor einem neuen Abgrund, dessen Tiefen die Besten unter uns
noch nicht ergründet haben.

Jedes Jahrhundert liebt einen anderen Schmerz, weil jedes Jahr-
hundert ein anderes Schicksal sieht. Es ist gewiss, dass wir nicht
mehr wie einstens an den Katastrophen der Leidenschaften Antheil
nehmen, und die tragischesten Meisterwerke der Vergangenheit haben
eine Trauer, die neben unserer heutigen untergeordnet erscheint. Sie
berühren uns nur mehr indirect und durch das, was unsere Be-
trachtungen und der neue Edelmuth, den der Lebensschmerz in uns
gezeugt hat, zu den einfachen Ereignissen des Hasses und der Liebe,
die sie uns vorführen, hinzugefügt hat.

Es scheint zu Zeiten, dass wir an der Schwelle eines neuen
geheimnisvollen und vielleicht sehr reinen Pessimismus stehen. Die
furchtbarsten Weisen, Schopenhauer, Carlyle, die Russen, die Scandi-
navier und der gute Optimist Emerson (auch er, denn nichts ist
entmuthigender als ein freiwilliger Optimist) sind vorüber geschritten,
ohne unsere Melancholie zu erklären. Wir fühlen, dass hinter
all den Gründen, die sie uns zu geben versuchten, ganz andere,
viel tiefere Gründe liegen, die sie nicht entdecken konnten. Die
Trauer des Menschen, die schon bei ihrem Kommen schön erschien,
kann sich noch unendlich veredeln, bis ein Genie endlich das
letzte Wort des Schmerzes spricht, das uns vielleicht vollkommen
läutern wird — —.

Indess sind wir in den Händen der seltsamen Mächte und im Begriffe,
ihre Absichten zu ahnen. Zur Zeit der grossen Tragiker der neuen Ära,
zur Zeit Shakespeares, Racines und ihrer Nachfolger glaubt man, dass alles
Unglück von den verschiedenen Leidenschaften unseres Herzens kommt.
Die Katastrophe schwebt nicht zwischen zwei Welten: sie kommt von
hier, um dorthin zu gehen; und man weiss, wo sie entspringt. Der
Mensch ist immer der Herr. Zur Zeit der Griechen war er es weit
weniger, und das Verhängnis herrschte auf den Höhen. Aber es war
unnahbar und niemand wagte, es zu befragen. Heute aber befragt
man es, und dies ist vielleicht das grosse Zeichen, welches das neue
Theater bestimmt. Man bleibt nicht mehr bei den Folgen des Unglücks
stehen, sondern beim Unglück selber, und man will sein Wesen und
seine Gesetze kennen. Was der unbewusste Gedanken der ersten
Tragödiendichter war und den feierlichen Schatten bildete, welcher ohne
ihr Wissen die rauhen, heftigen Geberden des äusseren Todes umgab:
das Wesen des Unglücks selbst, das ist der Kernpunkt der jüngsten
Dramen und der Herd mit dem flackernden Scheine geworden, um
den die Seelen der Männer und Frauen umhergehen; und man hat
einen Schritt zum Mysterium gethan, um die Schrecken des Lebens
von Angesicht zu Angesicht zu schauen.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 18, S. 686, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-18_n0686.html)