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Es wäre interessant zu untersuchen, unter welchem Gesichts-
winkel unsere letzten Tragiker das Unglück betrachten, welches den
Grund aller dramatischen Dichtung bildet. Sie sehen es näher als
die Griechen und dringen mehr in das fruchtbare Dunkel seines
inneren Kreises vor. Es ist vielleicht eine identische Gottheit. Aber
sie kennen es noch weit weniger. Von wo kommt es, wohin geht
es, und warum kommt es herab? Das fragten die Griechen kaum.
Ist es in uns gezeichnet oder entsteht es zugleich mit uns? Schreitet
es uns entgegen oder ist es durch Stimmen gerufen, die wir am
Grunde unseres Wesens nähren, und die mit ihm im Einverständnis
sind? Man müsste von den Gipfeln einer anderen Welt die Bewegungen
eines Menschen beobachten können, dem ein grosser Schmerz zustossen
soll; und welcher Mensch arbeitet nicht unbewusst daran, den Schmerz
zu schmieden, der der Angelpunkt seines Lebens sein soll?
Die schottischen Bauern haben ein Wort, das auf alle Existenzen
Anwendung finden könnte. In ihren Legenden nennen sie Fey den
Zustand eines Menschen, den eine Art unwiderstehlichen inneren
Impulses trotz all seiner Bemühungen, trotz aller Rathschläge und
allen Beistandes zu einer unabwendbaren Katastrophe treibt. So war
Jakob I., der Jakob der Katharina Douglas, Fey, als er trotz der
fürchterlichen Voraussagungen der Erde, der Hölle und des Himmels
das Weihnachtsfest im düsteren Schlosse Perth verbrachte, wo ihn
sein Mörder, der Verräther Robert Graeme, erwartete. Wer von uns
hat sich nicht, wenn er sich an die Umstände des entscheidendsten
Unglückes seines Lebens erinnert, unter einem ähnlichen Zwange
befunden? Ich spreche hier natürlich nur von activem Unglück, von
jenem, das zu verhüten möglich gewesen wäre; denn es gibt ein
passives Unglück, wie der Tod eines angebeteten Geschöpfes, welches
uns einfach begegnet, und auf das unsere Bewegungen keinerlei Ein-
fluss zu nehmen imstande sind. Erinnert euch an den verhängnis-
vollen Tag eures Lebens. Wer von uns war nicht gewarnt; und
wer von uns hat nicht, obgleich es uns heute scheint, dass das
ganze Schicksal durch einen Schritt, den man nicht gemacht, eine
Thüre, die man nicht geöffnet, eine Hand, die man nicht erhoben
hätte, geändert hätte werden können, wer von uns hat nicht
vergebens kraft- und hoffnungslos auf den zackigen Wänden des
Abgrundes gegen eine unsichtbare und scheinbar unbedeutende Macht
gekämpft?
Das Wehen jener Thüre, die ich eines Abends geöffnet, sollte
auf immer mein Glück verlöschen, wie es eine trübe Lampe verlöscht
hätte; und jetzt wenn ich daran denke, kann ich mir nicht sagen,
dass ich es nicht wusste Und dennoch hatte mich nichts
Wichtiges auf jene Schwelle geführt. Ich hätte achselzuckend weg-
gehen können, kein menschlicher Grund konnte mich zwingen, an den
Thürflügel zu rühren kein menschlicher Grund; nichts als das
Schicksal
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 18, S. 687, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-18_n0687.html)