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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 18, S. 688

Text

688 MAETERLINCK.

Es gleicht noch jenem Verhängnis des Ödipus, und doch ist es
schon etwas anderes. Man könnte sagen, es ist ein ab intra geschautes
Verhängnis. Es gibt geheime Mächte, die in uns herrschen und mit
den Abenteuern im Einverständnis zu sein scheinen. Wir tragen alle
Feindinnen in unserer Seele. Sie wissen, was sie thun, und was sie
uns thun lassen, und wenn sie uns zum Ereignis geleiten, warnen sie
sie uns leise, zu leise, um uns auf dem Wege aufzuhalten, aber immer-
hin genügend, um uns dann, wenn es zu spät ist, bedauern zu lassen,
dass wir ihren unentschiedenen und spöttischen Rathschlägen nicht
aufmerksamer gelauscht haben. Wohin wollen sie es bringen, jene
Mächte, die unseren Untergang herbeiwünschen, als ob sie unabhängig
wären und nicht mit uns stürben, obgleich sie nur in uns leben? Was
setzt alle Complicen des Weltalls, die sich mit unserem Blute nähren,
in Bewegung? Der Mensch, für den die unglückliche Stunde geschlagen
hat, ist von einem Wirbel erfasst, den man nicht bemerkt, und seit
Jahren erdenken jene Mächte die zahllosen Zwischenfälle, die ihn zum
nothwendigen Augenblick, zu dem Punkte führen sollen, wo die Thränen
seiner harren. Gedenket all eurer Bemühungen und Vorahnungen.
Gedenket all des unnützen Beistandes. Gedenket auch der von Mitleid
erfassten, guten Gelegenheiten, die es versuchten, euch den Weg zu
verlegen, und die ihr wie lästige Bettlerinnen zurückgewiesen habt. Es
waren ja doch schüchterne Schwestern, die euch retten wollten und
die sich dann lautlos entfernt haben, weil sie zu schwach und zu klein
waren, um gegen Dinge zu kämpfen, die in unbekannten Regionen
entschieden wurden

Kaum hat sich das Unglück vollzogen, so haben wir die seltsame
Empfindung, einem ewigen Gesetze gehorcht zu haben, und eine unbe-
stimmte geheimnisvolle Erleichterung belohnt uns inmitten der grossen
Schmerzen für unseren Gehorsam. Wir gehören uns nie wirklicher
an als nach einem unabänderlichen Schicksalsschlag. Es scheint dann
als ob wir uns wiedergefunden und einen unbekannten und nothwendigen
Theil unseres Wesens wiedererobert hätten. Es findet eine seltsame
Linderung statt. Seit vielen Tagen kämpften fast ohne unser Mitwissen
die aufständischen Mächte unserer Seele am Rande des Abgrundes,
während wir dem Menschenantlitz und den Blumen zulächeln konnten
und jetzt, wo wir am Grunde liegen, athmet alles frei.

So kämpfen sie alle ohne Rast in jeder unserer Seelen; und
wir sehen manchmal, ohne darauf zu achten, — denn wir öffnen die
Augen nur für die bedeutungslosen Dinge — den Schatten dieser
Kämpfe, bei denen unser Wille nicht mitthun kann. Wenn ich mit
Freunden beisammen bin, ist es möglich, dass inmitten der Worte
und des Lachens etwas, was nicht dieser irdischen Welt angehört,
plötzlich über das Antlitz des einen gleitet. Ein unbegründetes Schweigen
wird plötzlich herrschen: und alle werden unbewusst die Spanne eines
Augenblicks mit den Augen der Seele geschaut haben, worauf das
Lächeln und die Worte, welche wie die erschreckten Frösche in einem
grossen Teiche verschwunden waren, heftiger an die Oberfläche steigen

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 18, S. 688, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-18_n0688.html)