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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 18, S. 689

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DER STERN. 689

werden. Aber das Unsichtbare hat hier wie überall seinen Tribut ein-
gestrichen. Etwas hat verstanden, dass ein Kampf vorüber war, dass
ein Stern aufgieng oder sank und ein Schicksal sich besiegelt hat

Es war vielleicht schon besiegelt; wer weiss ob der Kampf nicht
ein Scheingefecht war? Wenn ich heute die Thüre des Hauses öffne,
in dem ich dem ersten Lächeln einer Trauer begegnen soll, die nie mehr
enden wird, so thue ich das seit viel längerer Zeit, als man glaubt. Was
nützt es, ein Ich zu pflegen, auf das wir fast gar keinen Einfluss
haben? Unseren Stern müssen wir beobachten. Er ist gut oder schlecht,
bleich oder mächtig, und alle Kräfte des Meeres könnten nichts daran
ändern. Manche, die Vertrauen auf ihn haben können, spielen mit ihm
wie mit einer Glaskugel. Sie werfen ihn in die Höhe und setzen ihn,
wo sie wollen, aufs Spiel; er wird immer treu in ihre Hände zurück-
kehren. Sie wissen wohl, dass er nicht zerbrechen kann. Aber es gibt
andere, die keinen Blick zu dem ihren erheben können, ohne dass er
sich vom Firmament ablöst und als Staub ihnen zu Füssen fällt

Aber es ist gefährlich, vom Sterne zu sprechen. Es ist sogar
gefährlich, an ihn zu denken; denn oft ist dies das Zeichen, dass er
im Begriffe ist zu erlöschen

Wir befinden uns hier in den Abgründen der Nacht und warten
auf das, was kommen soll. Hier handelt es sich nicht mehr um
Willen, wir sind tausend Meilen über ihm und in einer Region, wo
selbst der Wille die reifste Frucht des Schicksals ist. Man darf sich
darob nicht beklagen; wir wissen schon etwas und haben einige Ge-
wohnheiten des Zufalls entdeckt. Wir warten wie der Vogelsteller, der
die Gewohnheiten der Zugvögel beobachtet, und wenn ein Ereignis am Hori-
zonte gezeichnet ist, wissen wir gar wohl, dass es nicht vereinzelt
bleiben wird, und dass seine Brüder sich schaarenweise am selben
Orte niederlassen werden. Wir haben unklar gelernt, dass sie von
gewissen Gedanken und gewissen Seelen angezogen scheinen, und dass
es Wesen gibt, die ihren Flug abwenden sowie andere, die sie aus
den vier Windrichtungen herbeilocken.

Wir wissen namentlich, dass gewisse Gedanken ausserordentlich
gefährlich sind, dass es genügt, sich einen Augenblick geschützt zu
glauben, um den Blitz hervorzurufen, und dass das Glück eine Leere
bildet, in welche sich ohne Verzug die Thränen ergiessen. Nach einiger
Zeit unterscheiden wir auch ihre verschiedenen Eingenommenheiten.
Wir bemerken bald, dass, wenn wir einige Schritte auf dem Lebens-
wege neben einem unserer Brüder machen, die Gewohnheiten des Zu-
falles nicht mehr dieselben sein werden, während bei jenem anderen,
Ereignisse unveränderlicher Art regelmässig unserer Existenz entgegen-
kommen werden. Wir empfinden, dass es Wesen gibt, die im Un-
bekannten Schutz bieten, und andere, die einen dort in Gefahr bringen,
dass es solche gibt, die die Zukunft einschläfern und andere, die sie
wecken. Wir ahnen auch noch, dass die Dinge zuerst schwach ent-
stehen, in uns ihre Kraft schöpfen, und dass es bei jedem Geschehnis
einen kurzen Augenblick gibt, in dem unser Instinct uns sagt, dass

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 18, S. 689, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-18_n0689.html)