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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 18, S. 690

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690 MAETERLINCK.

wir noch die Herren unseres Schicksals sind. Endlich wagen es einige
zu behaupten, dass man lernen kann, glücklich zu sein, dass wir, je
besser wir werden, desto mehr Menschen begegnen, die sich bessern,
dass ein Wesen, das gut ist, unwiderstehlich ebenso gute Ereignisse
anzieht, und dass in einer schönen Seele der traurigste Zufall sich in
Schönheit wandelt

Wer hat denn nicht empfunden, dass die Güte der Güte winkt,
und das es immer dieselben sind, denen man sich treu ergibt und
dieselben, die man verräth? Wird der Schmerz, wenn er an zwei an-
einanderstossende Thüren klopft, gleicherweise im Hause des Gerechten
und im Hause des Bösen handeln? Und werden, wenn ihr rein seid,
eure Leiden nicht auch rein sein? Heisst es nicht die Zukunft be-
herrschen, wenn man die Vergangenheit in ein stilles, ein wenig
trauriges Lächeln zu verwandeln wusste? Und scheint es nicht, dass
wir sogar im Unvermeidlichen etwas zurückhalten können? Schlafen
nicht grosse Zufälle, die eine zu rasche Bewegung am Horizonte er-
weckt, und wäre dieses Unglück heute geschehen, wenn nicht Fest-
gedanken heute morgens in eurer Seele zu viel Lärm geschlagen hätten?
Ist das alles, was unsere Weisheit in dieser Finsternis auflesen konnte?
Wer wagt es zu sagen, dass es in diesen Regionen sicherere Wahr-
heiten gibt? Indes muss man lächeln können, man muss weinen können
in der Stille einer sehr demüthigen Güte. Über diesen Dingen erhebt
sich nach und nach das unvollkommene Antlitz des heutigen Geschickes.
Ein kleiner Theil des Schleiers, der es einst bedeckte, ist beiseite
geschoben worden, und in dem blosgelegten Theil haben wir nicht
ohne Unruhe einerseits die Macht jener, die noch nicht leben, und
andererseits die Macht der Todten erkannt. Im Grunde genommen ist
es nur ein neuerliches Sichentfernen vom Mysterium. Wir haben die
eisige Hand des Schicksals vergrössert, und da reichen in seinem
Schatten unsere Söhne, die noch nicht geboren, unseren Ahnen die
Hände. Es gab eine That, welche wir für das Obdach aller unserer
Freiheiten hielten, und die Liebe blieb die letzte Zufluchtsstätte aller
jener, die die Ketten des Lebens zu hart empfanden. Hierher, sagten
wir uns, in die Einsamkeit dieses geheimen Tempels tritt wenigstens
niemand mit uns ein. Hier können wir einen Moment athmen; hier
herrscht unsere Seele endlich und hat frei gewählt, in dem, was das
eigentliche Centrum der Freiheit ist. Aber jetzt ist man gekommen
und hat uns gesagt, dass wir nicht für uns selber lieben. Man hat uns
gesagt, dass wir selbst im Tempel der Liebe den unveränderlichen
Befehlen einer unsichtbaren Menge gehorchen. Man hat uns gesagt,
dass wir tausend Jahrhunderte von uns selbst entfernt sind, wenn wir
unsere Geliebte wählen, und dass der erste Kuss des Bräutigams nur
das Siegel ist, welches tausende von Händen, die entstehen wollen,
auf den Mund der Mutter drücken, die sie sich wünschen. Und anderer-
seits wissen wir, dass die Todten nicht sterben. Wir wissen jetzt, dass
sie sich nicht mehr in unserer Kirchen Nähe befinden, sondern in
allen unseren Häusern, in allen unseren Gewohnheiten; dass es nicht

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 18, S. 690, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-18_n0690.html)