Faksimile

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 18, S. 691

Text

DER STERN. 691

eine Geberde, einen Gedanken, eine Sünde, eine Thräne oder ein Atom
des erworbenen Bewusstseins gibt, das in den Tiefen der Erde ver-
loren gienge; und dass bei der unbedeutendsten unserer Thaten unsere
Vorfahren sich erheben, nicht vielleicht in ihren Gräbern, in denen
sie sich nicht mehr rühren, sondern am Grunde unseres Ichs, wo sie
immer noch leben

So sind wir von der Vergangenheit und der Zukunft geleitet.
Und die Gegenwart, die unsere Substanz ist, fällt auf den Meeres-
grund wie eine kleine Insel, an der rastlos zwei unversöhnliche Meere
nagen. Vererbung, Willen, Schicksal — alles vermengt sich geräusch-
voll in unserer Seele, aber trotz allem und über allem herrscht der
lautlose Stern. Man klebt provisorische Etiquetten auf die ungeheuerlichen
Gefässe, die das Unsichtbare enthalten, und die Worte sagen fast
nichts von dem, was man sagen müsste. Die Vererbung oder selbst
das Schicksal ist nur ein Strahl von diesem Stern, der sich in der
geheimnisvollen Nacht verliert; und alles hat wohl das Recht, noch
geheimnisvoller zu sein. »Wir nennen Schicksal alles, was uns begrenzt«,
hat einer der grossen zeitgenössischen Weisen gesagt, und deshalb
müssen wir all jenen danken, welche zitternd an den Grenzen tasten.
»Wenn wir brutal und barbarisch sind,« fügt er hinzu, »nimmt das
Verhängnis eine brutale und barbarische Form an. Wenn wir uns
verfeinern, werden unsere Niederlagen auch feiner. Wenn wir uns zu
einer geistigen Cultur erheben, nimmt der Antagonismus auch eine
geistige Form an.« Es ist vielleicht wahr, dass unsere Seele, je mehr
sie sich erhebt, das Schicksal läutert, obgleich es auch wahr ist, dass
uns dieselben Kümmernisse bedrohen, die die Wilden bedrohen. Aber
wir haben andere, die sie nicht ahnen, und der Geist erhebt sich nur,
um an allen Horizonten noch neue zu entdecken. »Wir nennen
Schicksal alles, was uns begrenzt.« Sehen wir, dass das Schicksal
nicht zu enge sei. Es ist schön, seine Betrübnisse zu vermehren,
weil es sein Bewusstsein erweitern heisst, welches die einzige Stelle
ist, an der man sich leben fühlt. Und es ist auch das einzige Mittel,
seine höchste Pflicht gegen die anderen Welten zu erfüllen, denn es
kommt wahrscheinlich uns allein zu, das Bewusstsein der Erde zu
bereichern.


Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 18, S. 691, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-18_n0691.html)