Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 18, S. 692
Text
Von Dr. LADISLAUS GUMPLOWICZ (London).
Das Buch eines früheren katholischen Priesters und jetzigen
Protestanten, der sich mit Händen und Füssen gegen den Darwinismus
sträubt, um die in seiner Persönlichkeit tiefeingewurzelte Vorstellung
eines »Kosmos«, einer von einem weisen und gütigen Schöpfer plan-
voll erbauten und schön geordneten »Schmuckwelt« nicht preisgeben
zu müssen. Armer alter Herr, der noch nicht weiss, wie unsäglich
naiv er ist, dem Weltall »Zwecke« und »Absichten« unterzuschieben,
während es doch nur eine komische Unart der Menschen und einiger
anderer wichtigthuerischer Krabbelthierchen ist, mit einer »Buckel-
kraxen« voll »Zwecken« und »Absichten« beladen herumzulaufen auf
dieser so reizend zwecklosen Welt! Ernster gesprochen: wie belächelns-
wert muss uns sein hilfloses Grauen vor dem »Chaos« erscheinen,
uns, die wir längst unsere stolzeste Lebensfreude darin finden, dem
Leben unsere Zwecke zu dictieren, mitten ins Chaos hinein unsere
planvollen Bauten zu schaffen! Die eigentliche geistige Grossthat
Darwins: zweckmässige, organische Structuren erklärt zu haben, ohne
Dazwischentreten eines zwecksetzenden Schöpfers, existiert für Jentsch
thatsächlich nicht; seine diesbezüglichen Äusserungen sind von
belustigender Verständnislosigkeit. So oft Darwin und seine Schüler,
anstatt die lange Leier von Anpassung und Zuchtwahl jedesmal von neuem
abzuleiern, kurzweg von »Zweckmässigkeit« in ihrem Sinne, nämlich
von organisch gewordener, nicht von geschaffener Zweckmässigkeit
reden, fährt Herr Expfarrer Jentsch gleichsam mit der Fliegenklappe
auf sie los und ruft: »Hat ihn schon! auch die Darwinianer können
nicht leugnen, dass — sagen wir — die Reisszähne des Wolfes eine
äusserst zweckmässige Einrichtung sind!« Dass die Structuren und
Fähigkeit einer Thierart bestenfalls nur zweckmässig sind vom Stand-
punkt des Sonderinteresses dieser einzelnen Thierart aus, dagegen
höchst unzweckmässig vom Standpunkt der mit ihr ums Dasein
kämpfenden Arten; dass z. B. die Reisszähne des Wolfes sich als
höchst unzweckmässig erweisen für das unschuldige Menschenkind, das
von diesen schönen spitzen Zähnen zerfleischt wird; dass die ver-
blüffende Gewandtheit der Katzenpfoten, vom Standpunkt der Maus
betrachtet, ein abscheulich unzweckmässiger Missstand ist, indem diese
Gewandtheit der Katze nicht nur erlaubt, die Maus zu tödten, sondern
auch, sie vorher mit der teuflischer Grausamkeit eines Narcisse Portas
*) Socialauslese. Kritische Glossen. Leipzig, Fr. Wilh. Grunow. 1898.
236 Seiten.
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 18, S. 692, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-18_n0692.html)