Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 18, S. 693

Ein neues Buch von Karl Jentsch (Gumplowicz, Dr. Ladislas)

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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 18, S. 693

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EIN NEUES BUCH VON KARL JENTSCH. 693

zu foltern; dass vom Standpunkt des Raupeninteresses nichts unzweck-
mässiger sein kann, als der kluge Instinct der Schlupfwespenmütter,
ihre Eier in den Leib der jungen Raupe abzulegen und so ein schuld-
loses Wesen zur Höllenqual des langsamen Aufgefressenwerdens von
innen heraus zu verdammen; — das alles geniert Herrn Jentsch nicht.
Die Organismen sind in sich zweckmässig, folglich sind sie erschaffen,
Punctum. Er leistet sich nicht einmal das bisschen Consequenz, eben-
soviel tausende rivalisierender Götter anzunehmen, als es einander
feindliche Thierarten gibt. Darwins Theorie der geschlechtlichen Zucht-
wahl, diese so trefflich begründete und dabei für künstlerisch fühlende
Denker so erquickend trostreiche Lehre, versucht Jentsch gar nicht
erst zu widerlegen, sondern wirft sie à priori als abgeschmackten
Unsinn bei Seite. Wie aber stellt sich Jentsch zu einer Thatsachen-
gruppe, welche nach der Theorie der geschlechtlichen Zuchtwahl
geradezu schreit: zu den prächtigen Flügelfärbungen der Lepidopteren
in der kurzen Schlussperiode ihres Daseins, der Periode der Braut-
werbung, vulgo Schmetterlingsstadium? Nichts einfacher als das. Man
höre. »Die Natur hat den Zweck, den Menschenseelen die Entstehung
zu ermöglichen und gleichzeitig sie mit einem Inhalt zu erfüllen (die
Ansammlung dieses Inhalts ist eben die Entstehung der Menschenseele).
Zum Seeleninhalt gehören einerseits die ästhetischen Empfindungen,
weshalb die Naturgestalten mannigfaltig und vorwiegend schön sein
müssen, andererseits die Erforschung und Erkenntnis des ursächlichen
Zusammenhanges der Erscheinungen. Beiden Zwecken dienen die
Schmetterlinge in hohem Grade, indem sie einerseits eine Fülle von
Schönheit darbieten und dem Menschen vielleicht die erste Anregung
zum Ornamentenzeichnen gegeben haben, andererseits eben durch ihre
wunderbare Gestalt und Schönheit und den noch wunderbareren Ablauf
ihres Lebens in drei, eigentlich vier von einander so grundverschiedenen
Entwicklungsstufen, den Menschen zum Nachdenken und Forschen
anregen«. Gut gepredigt, Pfarrer! Ich möchte nur wissen, wozu dann
eigentlich die Flöhe und Wanzen erschaffen sind? Wohl, um Herrn
Zacherl zur Erfindung seines Insectenpulvers anzuregen?

Somit wäre also das Buch von Karl Jentsch wertlos, resp. nur
zu Erheiterungszwecken zu lesen? Halt, nicht so geschwind.

Zunächst beschäftigt sich Jentsch mit Vorliebe mit einer speciellen
Abart des Darwinismus, die ihm in der That sehr günstige Angriffs-
punkte bietet: mit dem »Neo-Darwinismus«, richtiger Auchdarwinismus
des Herrn Professor Weismann. Weismann ist nämlich der Typus
eines unbewusst kryptotheologischen Denkers; es ist somit leicht
zu begreifen, dass und warum der bewusste Theolog Jentsch ihm
gegenüber im Vortheil ist. Den Laien können die einschlägigen Aus-
führungen von Jentsch, infolge der häufigen Verwechslung von
Weismannismus und Darwinismus, leicht irreführen; für den Kenner
der einschlägigen Streitfragen bietet die Polemik Jentsch contra
Weismann ein nicht unbeträchtliches psychologisches und erkenntnis-
theoretisches Interesse.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 18, S. 693, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-18_n0693.html)