Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 18, S. 694
Text
Hat aber Jentsch schon gegen Weismann — immerhin einem
achtungswerten Forscher von nicht alltäglicher Begabung und
erstaunlicher Arbeitskraft — in manchen Punkten recht, so hat er
noch hundertmal mehr recht gegen jene pseudodarwinistischen, national-
liberalen Parteipamphletisten, die Otto Ammon und Alexander Tille,
welche die schwankenden Hypothesen Weismanns zum Range von
Glaubenssätzen erhoben haben, um sie in alberner Dreistigkeit für
ihre schmutzigen Tendenzzwecke auszuschlachten. Bei Herrn Ammon,
diesem Schädelstatistiker pour rire, hätte sich Jentsch eigentlich gar
nicht so lange aufzuhalten brauchen. Der Mann hat seinen Beruf ver-
fehlt, er sollte naturwissenschaftlicher Mitarbeiter des Simplicissimus
werden. Ein viel gemeingefährlicheres Thier ist Herr Tille, der
Tausendsassa, der es fertig gebracht hat, (seinem in früheren Schriften
dargethanen besseren Wissen zum Trotz) die greuliche Verfälschung
der Zuchtwahl durch Capitalismus und Lohnsclaverei »darwinistisch«
zu rechtfertigen. Es ist herzerquickend zu lesen, wie Jentsch mit
seinem gesunden Mutterwitz (über den er überall verfügt, wo nichts
Theologisches in Frage kommt) und mit seinen soliden socialpolitischen
Kenntnissen die frechen Verdrehungen dieses wissenschaftlichen Hoch-
staplers ihrer ganzen Hohlheit entblösst. »Welcher Unsinn und welcher
Frevel«, donnert Jentsch, »jeden Menschen für minderwertig zu
erklären und zum Untergange zu verurtheilen, der sich für die Hatz
des modernen Erwerbslebens nicht eignet und z. B. mit seinem
Gehirn, seinen Augen und seinen Fingern das Tempo der mit Dampf
getriebenen Spindeln, die er bedienen soll, nicht innezuhalten vermag!
Die dazu erforderliche einseitige Virtuosität ist vom Standpunkte ver-
nünftiger Menschenabschätzung beinahe wertlos. Ein Bauer, der sich
nur langsam zu bewegen und langsam zu denken vermag, der aber
eine vielseitige Thätigkeit übt, Gemüth und Charakter hat, ist zehnmal
mehr wert als so ein lebendiger Maschinentheil. Der kühne Mann,
der sich unwürdigen Lebensbedingungen nicht fügen mag und Wild-
dieb wird, ist mehr wert als ein zweibeiniges Arbeitsthier.«
Herr Jentsch ist Theologe, Gott sei’s geklagt. Aber er ist ein
redlicher Mann und ein tapferer Socialist und als solcher unendlich
achtungswerter, als irgend ein Tille.
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 18, S. 694, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-18_n0694.html)