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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 18, S. 705

Text

MASKEN UND GÖTZENBILDER.
Von ELIE RECLUS*) (Brüssel).
Übersetzt von Marie Lang. I.

Ein Zauberer vom Orinoko sagte einst: »Alle Magie besteht aus
Hass und Liebe, sie verwundet und tödtet nicht nur, sondern sie
heilt auch.«

Gewiss ahnte der wackere Zauberer die ungeheure Tragweite
seines Lehrsatzes nicht. Niemals ist ein tieferes Wort gesprochen
worden. Wie es uns das Wirken der Magie erklärt, offenbart es uns
auch das Geheimnis der Weltgeschichte. Grosses ist nie anders als in
Begeisterung vollbracht worden, und unter dem Antrieb einer tiefen
Leidenschaft. Und ein Aufleuchten des Genies war auch jener Ausruf
einer Freundin der Encyclopädisten: »Die Tugenden sind menschliche
Einrichtungen, die Leidenschaften aber göttliche.«

Doch unter dem Einfluss der Benthamisten, der Liberalismus
genannten Reaction der National-Ökonomen und Utilitaristen entwertete
man das Gefühl und verurtheilte die Leidenschaften insgesammt. Diese
ehrenwerten Leute, die nicht wussten was sie sagten, verlangten, dass
man sie unterdrücke, diese Leidenschaften, die doch nur Ursachen von
Ungemach, Verbrechen und Unheil seien. Ihre ideale Gesellschaft war
eine Wiederbelebung klösterlicher Zucht und erweckte die Vorstellung
einer Musterstrafanstalt; die von ihnen erträumte Welt wimmelt von
geschlechtslosen Arbeiterbienen.

Sie ahnten nicht, dass die Leidenschaften die Pulsschläge des
Lebens sind, das Brausen der Seele, die heraustritt aus kalter Regungs-
losigkeit, die aufhört zwischen zwei entgegengesetzten elektrischen
Polen ein Neutrum zu sein, und in heisser Glut sprühend emporsteigt
in Flammenpracht und Licht.

»Anstatt die Leidenschaften niederzuhalten — und mit welchem
Ungeschick! — anstatt danach zu trachten sie zu ersticken, — was
ebensowenig erreichbar ist —« erklärte der grosse Fourier, »erhöht
lieber ihre Energie, auf dass sie ihr Gleichgewicht und Gegengewicht


*) Anmerkung der Redaction: Herr Professor Elie Reclus von der
Brüsseler Université Nouvelle hatte die Güte uns dieses Manuscript einer seiner
Vorlesungen über »Dämonologie« zur Verfügung zu stellen.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 18, S. 705, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-18_n0705.html)