Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 18, S. 704
Text
Damit ist nun auch die Möglichkeit gegeben, Aufgaben zu lösen,
die die Engländer mit ihrem naiven Naturalismus nicht lösen konnten.
Ganz freigefundene Formen können Capitäle, Knäufe, Ornamente jeder
Art und jeden Zweckes sein, eine Blume aber wird nie ein Capitäl,
ausser man missbraucht ihre Form in kindischer Weise: es ist lächerlich,
aus einem Blütenkelch einen schweren Stein emporsteigen zu lassen,
der Gebälk und Sims trägt. Nur freie Formkunst bietet die Möglichkeit
schöner Lösungen. In ihr könnte sich in Wahrheit neues Ornament
und neue Architektur entwickeln.
Den Weg gezeigt zu haben, ist Obrists Verdienst. Sein Name
kann nicht mehr vergessen werden. Ob die weitere Entwicklung dem
Beginn entsprechen werde, ist leider nicht ohneweiteres zu bejahen.
Obrists principielle Bedeutung ist noch fast gar nicht anerkannt, nur
verschwindend wenig Künstler treten in seine Fussstapfen, die grosse
Masse ahmt nach und hört gelehrig die tiefsinnigen Sprüche gewisser
gelehrter Herren an, die da verkünden: schön ist alles, was bequem,
praktisch und constructiv richtig gearbeitet ist. Dass das aber selbst-
verständliche Dinge sind, fällt niemand ein. Natürlich darf ein Haus
nicht einfallen, ein Schrank soll standfest und haltbar sein. Aber das
ist Sache der Technik und noch lange keine Kunst. Erst wenn es
gelingt, ein Möbel wirkungsvoll zu gestalten, wenn alle constructiv
nothwendigen Theile auch künstlerisch nothwendig geworden sind,
wenn sie hinreissen, begeistern, packen, erst dann kann man von
Kunst reden.
Mag es nun kommen, wie es will. Jedenfalls muss man heute
constatieren: die englische Kunst hat bei uns das Interesse für
decorative Arbeiten mächtig geweckt. Wir haben allen Grund dafür
dankbar zu sein, wir brauchen aber nicht Nachtreter der Engländer
zu bleiben. Wir können eine eigene Kunst haben wenn wir wollen,
ja noch mehr, bei uns könnte eine ganz neue Kunstart entstehen, die
von uns aus später sich über die ganze Welt verbreiten würde. Ob
es geschieht, das hängt davon ab, ob Obrists That genügend bekannt
wird und in ihrer Bedeutung verstanden wird. Nur dann kann er
Nachfolger finden, die das Begonnene fortsetzen, erweitern und allgemein
zur Anerkennung bringen. Aber es wäre ja nicht das erstemal, dass
Keime kräftiger, seltener Blüten elend verkümmern. Das Genie ringt
sich immer durch, sagt der Philister in solch einem Fall.
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 18, S. 704, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-18_n0704.html)