Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 18, S. 703
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Stil durch die Importfirmen und sonstigen Einflüsse noch so sehr ein-
bürgern, im letzten Grunde ist er uns Deutschen unsympathisch. Mit
der Nachahmung und Verarbeitung englischer Muster ist uns also in
keiner Weise gedient. Und wir haben das umsoweniger nöthig, als
sich unter uns eine ganz neue Kunstweise zu entwickeln begonnen
hat, die uns zu ganz anderen und grösseren Zielen führen kann, als
es die englische jemals vermöchte. Ich denke dabei an die Arbeiten
von Hermann Obrist.
Obrist hat fast nur Stickereien geschaffen, etwa 20—30. Aber diese
wenigen Kunstwerke bilden den Ausganspunkt einer ganz neuen Epoche.
Obrist stilisiert nicht, quetscht nicht Naturformen in willkürlichen Linien,
er beginnt überhaupt nicht bei der Pflanze oder sonst einem Natur-
object. Was ihm zuerst vorschwebt, ist die Gesammtwirkung, charakte-
ristische Hauptlinien, an diese krystallisiert sich alles weitere an.
Allerdings hält er im wesentlichen an dem pflanzlichen Schema fest,
auch greift er oft ganz naturalistisch Blumen auf. Aber sein Aus-
gangspunkt ist allemal ein Formgedanke, der spontan entsteht — man
kann das in seinen Skizzenbüchern Schritt für Schritt verfolgen —,
sein Ziel ist lediglich die starke, unmittelbare Wirkung, die Formen und
Farben zukommt so gut wie Tönen und Accorden. Naturgeschichte
kann man an seinen Werken nicht studieren, aber wohl köstliche,
übermächtige Eindrücke erfahren. Denn eben weil es ihm nicht darauf
ankommt die Natur wiederzugeben, entnimmt er ihr nur das Wirkende
und fügt es willkürlich zusammen, wie es für seine künstlerische Ab-
sicht passt. So bleibt kein Fleck, kein Punkt ohne Wirkung und da-
durch gewinnt das Ganze eine Gewalt, die viel grösser ist als Natur-
gebilde sie haben können. Wer überall wissen will, was er sieht,
der wird bei Obrist allerdings schwer auf seine Rechnung kommen.
Aber der Geniessende will nichts wissen, sondern empfinden, und
nichts mehr.
Obrist ist nun noch weiter gegangen. Er hat eigene Blumen und
Blätter erfunden, ja er hat sogar in einigen Stücken direct freie Ge-
bilde geschaffen, die mit Natur überhaupt nichts zu thun haben. Damit
aber ist der Ausgangspunkt gegeben zu einer ganz neuen Kunstart, die
ich Formkunst nennen möchte, eine Kunst, die durch freigeschaffene
Formen, die nichts sind und nichts bedeuten, unser Gemüth erregen
wie die Musik durch freigeschaffene Töne. Man setzt Formen, Linien,
Flächen, Körper aneinander ohne jede andere Rücksicht, als die Rücksicht
auf die Wirkung. Formen wirken genau so absolut wie Töne, darum
kann man Formen wie Töne combinieren. Man muss aber nicht an
mathematische Formen denken, wie Kreis, Elipse etc. Gerade das sind
infolge ihrer Regelmässigkeit recht langweilige Formen. Aber die Zahl
der Curven und gekrümmten Flächen ist unendlich gross und die Zahl
ihrer Contraste unerschöpflich. Darum ist das Gebiet des Formkünstlers
unbegrenzt. Nie werden sich die Möglichkeiten der Formen erschöpfen
lassen, alle Nuancen, alle Charaktere, alle Zeiten, alle Racen können
sich in Formen aussprechen.
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 18, S. 703, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-18_n0703.html)