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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 18, S. 710

Text

NOTIZEN.
BÜCHER.

»Die graue Frau«. Ein
hellenisches Drama von Con-
stantin Christomanos. Wien,
C. Konegen.

Dieses esoterische Drama, wie
es der Verfasser selbst nennt,
unterscheidet sich von Stücken
modernen Stils, die eine innere
Handlung bieten, darin, dass es
nur noch Seelen, fast ohne
jede körperliche Beziehung vor-
führt. Die vorhandene äussere
Handlung entbehrt demnach für
jenen, der nicht diese inneren Vor-
gänge erfasst, der dramatischen
Durchleuchtung. Sie erscheint
schemenhaft, weil sie nur die Vor-
aussetzung bildet für seelische
Evolutionen, die über die Erfah-
rungsgrenzen hinausführen. So
wird bei der Lecture des Werkes
jeder einzelne in ganz individuelle
Stimmungen versetzt werden. Es
mag nicht ohne Wert sein, die
Freiheit der Kritik dem Leser
ganz intact zu erhalten und ihn
nur zu dem Standpunkt hinzu-
leiten, von dem aus er auf das
dichterisch Vorgeführte zu blicken
hat. — In einer Villa am Meere woh-
nen Lysander und Aglaia in junger,
glücklicher Ehe, der ein Kind
entsprossen ist. Trotzdem leben
die Gatten in einer unvollkommenen
Beziehung zu einander. Lysander
liebt seine Frau, aber diese Neigung
füllt ihn nicht aus, weil er
unbewusst auf etwas Gewaltigeres
harrt, das den Schlussstein seines
Lebens bilden soll. Aglaia wittert
in ihrer blumenhaften Feinfühlig-

keit die Wolke über ihrem Glück.
So liegen die Dinge, als die
»graue Frau« in den Lebenskreis
der Beiden tritt. Ihr Erscheinen
wirkt auf Lysander, dem in ihrer
Person die Erfüllung seines Ver-
hängnisses naht, überwältigend.
Im Contrast zu seinem Glück ist
sie das personificierte Leid. Sie
hat das Unglück erlebt, infolge
einer Willenslähmung ihr Kind
aus ihren Armen zu Tode fallen
zu lassen. Seitdem hat sie kein
Wort mehr gesprochen als: »Hätt’
ich ein Kind — hätt’ ich ein
Kind.« Und sie lächelt immer
still vor sich hin, als ob sie eines
zu ihr kommen sähe. Sie trägt
nur graue Kleider, keine schwarzen,
weil ihr Kleiner sich vor der
schwarzen Farbe gefürchtet hat.
Ihr ist die graue Farbe ein
Schimmer des Trostes, während
sie bei Lysander das Begrabensein
aller Farben des Glückes bedeutet
und eben dadurch die Concentrierung
alles Glückes symbolisiert. Des-
wegen durchschauert ihn schon
bei der blossen Erwähnung der
grauen Farbe ein Gefühl von
Schmerz und Wonne zugleich.
Er selbst erklärt sich dies durch
eine einst erhaltene Prophezeihung:
»Von der grauen Gestalt kommt
Dir einst all das Licht entgegen
und Du wirst darin untergehen.«
Die »graue Frau« ist ganz erfüllt
von ihrem Leid. Ihr ganzes Wesen
ist von dieser Empfindung durch-
setzt, alle anderen Gefühle sind
ausgeschieden. Sie hat sozusagen
alles Körperliche abgestreift. Sie
ist einzig und allein die Hypostase

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 18, S. 710, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-18_n0710.html)