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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 18, S. 709

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MASKEN UND GÖTZENBILDER. 709

es der Zeit, die ihre Umrisse verlöscht, ihre Züge verwischt. Die
Fähigkeit der Abstraction, welche Algebraikern und Mathematikern
eigen ist, entwickelt sich nur allmählig in unserer Gattung. Weder
Kinder noch Wilde mögen da gerne anbeissen.

Ebenso wie sieh auf der glatten Fläche eines Teiches die Land-
schaft spiegelt, fällt der Schatten der Personen und der Abglanz der
Dinge auf die Retina unseres inneren Auges. Indem sie ins Bewusstsein
treten, werden die Bilder zu Ideen, dann zu Reflexionen.

»Die Abgötterei«, erklärten Araber dem General Daumas, »ist
dem Schmerze der Lebenden um die Todten entsprossen«.

Bald vergessen, würden die Verstorbenen in den dunklen Ab-
gründen des Nichtseins verschwinden, wenn nicht irgend ein materielles
Bild, das immaterielle Bild, welches noch in einigen Erinnerungen fort-
besteht, fortwährend erhalten würde. Das gemeisselte, späterhin ge-
zeichnete Bildnis setzte die materielle Vision im Intellect fort.

Mit Recht oder Unrecht halten wir die, wie wir meinen ersten,
allen anderen vorangegangenen Darstellungen der menschlichen Gestalt
von höchster Bedeutung. Wie alle Welt sieht auch der Wilde erst
bloss die Form der Dinge, begreift nur durch die Zuhilfenahme eines
Bildes.

(Schluss folgt)

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 18, S. 709, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-18_n0709.html)