Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 18, S. 700

Der englische Einfluss im Kunstgewerbe (Endell, August)

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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 18, S. 700

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DER ENGLISCHE EINFLUSS IM KUNSTGEWERBE.
Von AUGUST ENDELL (München).

Als Künstler; der die moderne Bewegung des Kunstgewerbes
und der Architektur in München unmittelbar miterlebt hat, nicht als
Kenner oder Kunsthistoriker will ich über den Einfluss der englischen
Kunst sprechen, ihre Bedeutung und ihre Grenzen zu charakterisieren
versuchen. Der Historiker kommt leicht in Gefahr, fremde Einflüsse
ihrem Umfang nach zu überschätzen. Er studiert die betreffende
Entwicklung an Ort und Stelle, oder doch an der Hand umfangreicher
Publicationen und glaubt verzeihlicherweise nur allzu leicht, dass es
wirklich die Gesammtheit all dieser Kunstschöpfungen gewesen, die
in anderen Ländern Anstoss zur Nachahmung und Verarbeitung gegeben.
Das ist aber nicht der Fall. In Wirklichkeit geschieht die Übertragung
durch eine unendlich kleine Zahl von Kunstwerken, die zudem in
den seltensten Fällen zu den besseren gerechnet werden dürfen. So ist
es auch mit dem englischen Einfluss in München gegangen. Man hatte
das »Studio«, sah hie und da Kinderbücher von W. Crane, vielleicht
auch einmal ein kostbarer ausgestattetes Buch, die grossgemusterten
billigen Stoffe fanden in kurzer Zeit riesigen Absatz, dazu kamen noch
die spinnebeinigen Stühle und Tische und die Compositionsmöbel, die
man gelegentlich in grossen Magazinen ausgestellt sah. Das war aber
auch so ziemlich alles. In England selbst sind wohl nur verschwindend
wenig unserer Künstler gewesen. Was man hier zu Gesicht bekam,
war doch nur Massenware oder Imitation. Von dem eigentlichen
englischen Kunstgewerbe sahen wir so gut wie nichts. Man erzählte
sich wohl hie und da von sagenhaft herrlichen Dingen, die dort
drüben real existieren sollten, aber das alles war und blieb für uns
wie ein geheimnisvolles Märchenland, von dem man wohl träumen
konnte, aber von dem man nichts Bestimmtes wusste. Vielleicht, dass
gerade deshalb der Eindruck nachhaltiger und tiefer wurde. Jedenfalls
war er ausserordentlich stark, sowohl in principieller, wie in sachlicher
Hinsicht.

Zunächst, wir wurden erlöst von der Renaissance: die schreck-
lichen Säulenordnungen verloren ihre Machtstellung. Die abscheulichen
Gesimse mit ihren sinnlos gehäuften Linien, die langweilige Anordnung
der Fenster in Reih und Glied und die kleinliche wirkungslose
Ornamentierung war beseitigt. Freilich nur in uns, es war nur eine
innerliche Befreiung. Noch immer herrscht das Dogma von der
einzigartigen Schönheit der Renaissance, noch immer vertrödeln junge
Architekten und Kunstgewerbler kostbare lange Jahre mit dem unfrucht-

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 18, S. 700, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-18_n0700.html)