Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 18, S. 701

Der englische Einfluss im Kunstgewerbe (Endell, August)

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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 18, S. 701

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DER ENGLISCHE EINFLUSS IM KUNSTGEWERBE. 701

baren Studium dieser Kunstweise. Noch immer entstehen neue
Renaissancepaläste und noch immer trifft Acht und Bann den Frevler,
der sie zu bespötteln wagt. Es wird noch lange dauern, bis man
allgemein einsieht, welche Unmasse von künstlerischer Kraft seit dem
Ausgang des fünfzehnten Jahrhunderts vergeudet ist, indem man die
eigene Phantasie unterdrückte zu Gunsten einer fremden Formenwelt,
die man aus intellectuellen Überlegungen heraus, nicht aus ästhetischer
Überzeugung für die einzig schöne und nachahmenswerte erklärt hatte.
Von diesem Renaissancealp erlöste uns die englische Kunst.

Sie erlöste uns von dem Historismus überhaupt. Als etwas
Eigenes, neu Entstandenes erschien sie uns und machte uns frei von
der fixen Idee: nur die Anlehnung an alte Stile führe zur Kunst,
die Zahl der Möglichkeiten sei erschöpft. Die Historiker mögen
immerhin herausfinden, dass auch die Engländer an alte Formen
anknüpfen, an die Frührenaissance, an japanische Sachen und an
Formen ihrer eigenen Vergangenheit. Darauf kommt es hier aber
nicht an. Auf uns wirkte das alles als neu, als frei erfunden. Und
damit war für uns der Aberglaube widerlegt, dass man nichts
Neues schaffen könne. Das gab uns Freiheit und Lust am Schaffen.
Und heute haben wir soviel Selbstvertrauen und Zuversicht, dass
alle Geschichtsforschung unsern Glauben nicht mehr wankend
machen kann.

War der principielle Einfluss der englischen Kunst schon ein
enormer, so gieng nebenher noch eine weitgehende sachliche Beein-
flussung. Hatten unsere Architekten sich Mühe gegeben, ihre Kenntnisse
zu zeigen, und war ihre Kunst im wesentlichen ein Zusammensetzspiel
gewesen, so trat uns in den englischen Arbeiten das Streben nach
Wirkung als dominierend entgegen. Immer nur ein paar Linien, aber
die sicher und bestimmt gegeben, an Stelle des Liniengewirrs unserer
Architektur, wo keine Linie die andere zur Geltung kommen lässt,
wo alles schematisch intellectuell zusammengetragen ist, nicht aber
bis ins Einzelne für den speciellen Fall auf Wirkung hin erfunden ist.
Einfachheit und doch stärkere Wirkung, Ruhe, grosse Flächen,
Abwechslung und Bedeutung in den Hauptumrissen, an Stelle der
langweiligen Rechtecke, die unzählige Kleinigkeiten umschliessen.

Man darf aber nicht vergessen, dass wir in München schon
lange, ehe der englische Einfluss sich geltend machte und nur wenig
nach dem Beginn der Bewegung in England eine Architektur haben,
die von ganz anderen Gesichtspunkten ausgehend, uns genau dasselbe
lehren konnte. Vor mehr als 20 Jahren begann hier Gabriel Seidl
seine Bauthätigkeit und hat allmählig eine eigenartige, specifisch
Münchner Baukunst geschaffen. Einfache, dem Material angepasste
Bauweise; weisse Putzflächen, rothe Ziegeldächer, die Fenster hellgrün
gestrichen, ruhige, aber wirksame Formen, glückliche Verhältnisse, alle
Überladung vermieden. Allerdings gieng er vom bayerischen Barock
aus, aber diese Anlehnung ist nahezu unmerklich, nur im Ornament
macht sie sich deutlicher geltend. Und darum musste in München die

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 18, S. 701, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-18_n0701.html)