Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 18, S. 711

Christomanos, »Die graue Frau« Tschechow, »Starker Tobak«

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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 18, S. 711

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NOTIZEN. 711

des Schmerzes. Sie wird dadurch
zur unbewussten Nothwendigkeit
für die beiden Glücklichen. Nach-
dem sie aber auch deren Kind,
wie durch einen unwiderstehlichen
Zwang getrieben, jenem selben
Schicksal zuführen musste, welches
ihr eigenes Kind ereilt hatte, weil sie
ihr Wesen als personificiertes Leid
nicht verneinen durfte, so zerfliesst
ihre Gestalt am Schlusse des Stückes
und bleibt im Inneren der beiden
anderen zurück. Bei dem Einen voll-
zieht sich durch Erschauung seines
Ich-Kernes jene Ergänzung seines
Wesens, der er bedurfte, während
Aglaia, bisher ein Vollgeschöpf,
um ebensoviel beraubt wird. Die
Philosophie des Schmerzes, die
Ästhetik des Leidens, die uns
das Werk vor Augen führt,
gemahnt in seiner Anlehnung
an das griechische Drama an
die althellenische Adonisfeier. —
Wenn so die äussere Fabel,
die der »grauen Frau« zu Grunde
liegt, herausgeschält und der Mass-
stab zur philosophischen Kritik
zur Hand ist, wird sich der Leser
ohne Ablenkung an die künst-
lerische Ausführung halten können.
»Es gibt ein unbegrenztes, aber
auch unzugängliches Feld für unser
gesammtes Erkenntnisvermögen«,
sagt Kant in seiner Kritik der
Urtheilskraft, »nämlich das Feld
des Übersinnlichen, worin wir
keinen Boden für uns finden, also
auf demselben weder für die Ver-
standes- noch Vernunftbegriffe ein
Gebiet zum theoretischen Erkennt-
nisse haben können; ein Feld,
welches wir zum Behufe des Ge-

brauchs der Vernunft mit Ideen
besetzen müssen « —i—.

Von Anton Tschechow ist
soeben ein neues Bändchen unter
dem Titel: »Starker Tobak« bei
Albert Langen erschienen. Bis auf
den geschmacklosen, irreführenden
Titel — ein Verlegertitel! — ist jede
Zeile dieses Bändchens bewunde-
rungswürdig. — Man hat Tschechow
den russischen Maupassant genannt,
aber das scheint uns noch zu
wenig gesagt über diesen grossen
Dichter. Maupassants Skizzen sind
alle spitz zulaufend, mit einer Ent-
schleierung, einer Überraschung,
einer Pointe endigend. Alle Mau-
passant-Skizzen sind für den Leser
im Hinblick auf die Schlusswendung
spannend, Tschechow aber ist ein
fortwährender Überrascher. Seine
Skizzen haben selten eine einzelne
Pointe, sondern sie sind Bilder
des Lebens, wie es sich fort-
während in unerwarteten Über-
raschungen documentirt. Jedes
Wort in diesen Skizzen ist pointirt,
aber dieser Complex selbst ist oft
durchaus ohne Pointe. (Man denke
an das wunderbare Idyll: »Lotto«.)
Vielmehr steht Tschechow selbst,
wie einmal einer seiner ersten
deutschen Apostel sagte, mit einem
merkwürdigen Gleichmuth vor
seinen Conflicten, mit der kalten
Heiterkeit eines allerfassenden homo
sapiens Dieses Bändchen enthält
übrigens neben dem bei Reclam er-
schienenen die besten Dichtungen
Tschechows. Es gehört zu den drei
oder vier bedeutsamsten Erschei-
nungen dieses Literaturjahres. gr.



Herausgeber: Gustav Schoenaich, Felix Rappaport.

Verantwortlicher Redacteur: Gustav Schoenaich.

K. k. Hoftheater-Druckerei, Wien, I., Wollzeile 17 (Verantwortlich A. Rimrich.)

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 18, S. 711, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-18_n0711.html)