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finden können, lernt sie in Harmonie setzen, die eine durch die andere zur
Geltung zu bringen! Leidenschaften sind die Springfedern der Gesell-
schaft, die Leidenschaft oder das starke Gefühl sind der Motor der
Menschheit.«
Solche Theorien waren den Mittelmässigen, die nur von niederen
und frivolen Leidenschaften bewegt werden, unverständlich. Ihre Herzen
sind ein immerwährend feuchter Zünder, — sie verfaulen im Mode-
rantismus, der ihrem Seelenstande angemessen ist, ausser wenn sie
manchmal unbewusst das Opfer einer blinden Wuth werden. Raserei
gibts überhaupt nur bei Gemässigten.
Übereinstimmend mit den Poeten des Phalanstère befinden sich
die Zauberer der Galibi und der Caraiben auch in Einklang mit den
Brahmanen des Bhagawas und des Puranas, welche behaupten, dass
das höchste Wesen in Wahrheit keine Eigenschaften an sich habe,
sie aber gewinne durch die Macht der Maja, durch die es die Geschöpfe
erzeugt, erhält und zerstört.
Die ersten Interpreten übersetzen den Namen Maja ohneweiters
mit Magia und erklärten ihn, übrigens ganz richtig, als die Leiden-
schaft und gleichzeitig die Illusion; die Leidenschaft, das heisst der
Conflict von Anziehung und Abstossung, von Liebe und Hass. Durch
die logische Fortentwicklung dieser Theorie gelangte Buddha zu seinem
System: Nirwana zu gewinnen, oder die Unpersönlichkeit des Seins
im unbestimmten Genusse des Absoluten.
Ebenso nannte sich Odin, die grosse scandinavische Gottheit,
Oskr, das heisst: der Wunsch; und die Walküren, seine Gefolgschaft,
waren Oskr Mayjar, »Wunschtöchter«.
Die lebendigsten und fesselndsten Berichte der Geschichte und
Legende geben uns Kunde von Ungeheuerem, das der Hass erzeugte
und von Wundern, welche die Liebe vollbrachte. Eine Heldin der
neu-griechischen Sagen sollte von einem fürchterlichen Ungethüm
zerrissen werden. Ein Held kommt, sieht und liebt sie. Und fühlt
seinen Arm von unbezwinglicher Kraft durchzittert, nachdem er um
den Griff seines Degens ein Haar gewickelt hatte, das sie ihm aus
ihren langen goldenen Locken geschenkt.
Dieses Haar war ein Träger von Magie, denn alle Heilmittel,
Gift und Zaubertränke sind nur die Übermittler von Hass und Liebe.
Gewiss meinte unser Zauberer keineswegs, dass sich Hass und
Liebe in seiner galibischen Horde gegenseitig aufhoben. Er war nicht
bis zum System des Dualismus gelangt, nach welchem sich gut und
böse das Gleichgewicht halten, noch weniger nahm er an, dass ein
grosser Armuzd damit enden werde, einen grossen Ahriman aufzusaugen.
Er stellte sich alles um sich her als das Ergebnis guter oder böser
Leidenschaften vor, in deren Grunde gute oder böse Dämonen wirken.
Aber er dachte, dass die Teufelchen des Zornes zahlreicher und mächtiger
seien als die Geister der Güte und des Erbarmens.
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 18, S. 706, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-18_n0706.html)