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Häufig liest man in den Berichten von Reisenden und Missionären
Sätze wie die folgenden: »Die Wilden nehmen die Existenz von zwei
Principien an, Mologou, den Urheber des Guten und Cienga, den
Urheber des Bösen. Aber Cienga begegnet man überall. Cienga ist
auf allen Wegen und Stegen, Cienga mischt sich stets in alles, was
ihn nichts angeht, während Mologou unsichtbar bleibt. Übrigens
sagt man, Mologou sei todt, sei infolge seines hohen Alters
gestorben! —« So erzählt Rudesindo Salvado, Missionär in Australien.
Diese Angaben sind vielleicht ein wenig zu kategorisch. Die
Wilden dürften keine klare metaphysische Vorstellung von gut und
böse haben, von dem ewigen Gegensatz dieser beiden Principien;
sie unterscheiden eher, was ihnen nützlich oder schädlich ist. So ver-
fährt die unentwickelte Intelligenz. Der Bauer theilt die Vögel und
Insecten in zwei scharf gesonderte Classen: die Verwendbaren, eine
kleine Schar, und das unzählbare Heer der Schädlichen und Bösartigen.
Was sagt man von den Champignons? Die einen sind gut, das heisst
essbar; sie haben eine frische, rosige Farbe, ihr Fleisch ist dick und
fest, verändern nicht die Farbe an der Luft und strömen einen feinen
Duft von Rosen und Mandeln aus. Die giftige Art, die schlechten —
sind gekennzeichnet durch ein schmutziges, klebriges Aussehen, weiches,
schwammiges Gewebe und meistens durch einen unangenehmen,
häufig sogar faulen Geruch.
Der Dualismus, welcher zusammengefasst ist in »Weweh« und
»Gutiguti«, dieser Dualismus der Kinder und Wilden, hat nur einen
geringen objectiven Wert. Was liegt dem Universum daran, ob eine
Sache dem Individuum angenehm oder unangenehm, nützlich oder
schädlich sei, welches den Namen Mensch trägt?
Wir sehen nichts Auffälliges an der Gesundheit — ist sie doch
der Normalzustand. Nichtsdestoweniger setzt sie die Mithilfe zahlreicher
Organe voraus, die in unendlichen Complicationen zusammenwirken.
Die mindeste Unbequemlichkeit, der Schatten einer Störung wird
hingegen sofort bemerkbar, schon ein leiser Schmerz beunruhigt den
Organismus. Durch seinen aussergewöhnlichen Charakter macht das
Leiden einen tieferen Eindruck als die Freude, das Widerwärtige einen
grösseren als das Befriedigende. Unser Nebenmensch macht sich uns
öfter durch seine schlechten als durch seine guten Dienste bemerkbar.
So geht es in der unsichtbaren Welt. Die bösen Teufel offenbaren
sich eher als die schützenden Geister. Gegenüber einigen gütigen
Göttern vermutheten die Singhalesen zahllose Mengen bösartiger
Dämonen. Ihre Zauberer behaupteten 240 000 Beschwörungsformeln
zu kennen um Krankheiten herbeizurufen und nur eine, um sie zu
bannen.
Nach zahlreichen Visitationen auf der Insel St. Domingo gewann
Monsignore Hillion, Bischof auf Cap Haïti, die traurige Überzeugung,
dass der grösste Theil seiner schwarzen Beichtkinder die Messe
besucht, um sich ganz besonders für die Beschwörung der »Zombi«
vorzubereiten. »Zombi« oder Ombres — Schatten — ein Wort aus
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 18, S. 707, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-18_n0707.html)