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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 19, S. 728

Text

728 MARHOLM.

sich nicht zum kleinsten Theil darin zeigt, beide Eigenschaften gleich
mitzubringen oder doch mit möglichst wenig Zeitverlust zu erwerben.
Denn woran soll denn die gute Absicht der Welt uns anfassen, wenn
wir keine Henkel haben?

Als junger Mann von angenehmem Äussern, guter Familie und
lebhaftem Temperament hatte er das Leben und die Liebe genossen
mit vollen Zügen, ohne Furcht und Tadel, ein reicher Jüngling an
Leib und Seele und Beutel. Er kannte den Neid nicht, diese origo
pudenda so mancher grossen Dichter- und Denkerbegabung. Auch diesen
Henkel bot er den guten Absichten modernen Mäcenatenthums nicht dar.

Ich weiss nicht, ob sein Ehrgeiz ins Grösse gegangen wäre, ins
Kleine gieng er nicht. Er war in das hineingeboren, wonach sich
manche andere verzehren und woran sie sich später nicht ersättigen
können — die üblichen, erreichbaren und erdenkbaren Genüsse des
Lebens hatten für ihn, nachdem der Hunger der jungen Sinne gestillt
war, nur einen mässigen Reiz. Nachdem er zum Abschluss seine
Heimat und Verwandtschaft damit stimuliert, dass der Generalssohn eine
kleine Schauspielerin aus einer herumziehenden Provinztruppe heiratete
und in die Gesellschaft einzuführen Miene machte, zog er sich ganz
von vanity fair zurück, liess seine Gemahlin in Berlin Theaterstudien
machen und verlebte den endlosen finnischen Winter manches Jahr
in Björneborg.

»Ich bin ganz vergnügt hier unter Holzhändlern und Zollbeamten
bei Karten und Toddy«, schrieb er uns. »Ich fand hier auch endlich
die Gelegenheit, eine ganz neue Bekanntschaft zu machen — nämlich
die mit mir selbst. Von diesem Umgang bin ich jetzt in Anspruch
genommen und komme dabei hinter allerlei überraschende und un-
erwartete Dinge.«

Er war kein sorgfältiger Dichter, Tavaststjerna, er konnte recht
nachlässig sein. Was geschrieben war, das war geschrieben, was stand,
das stand, er machte nichts um. Konnte ihn der Leser nicht verstehen,
— um so schlimmer für ihn; stand neben einer herrlichen organischen
Gedichtblüte eine handvoll hölzerner, holperiger Reimereien — was
macht’s? Das hochgeehrte Publicum konnte ganz nach Vermögen
daraus ermessen, wie viel es bei ihm galt. Seine Bücher waren Nadel-
stiche für vaterländische Aufgeblasenheiten — so ein einziger kleiner
Stich und die Blase hieng schlaff. Sie waren auch Dolchstösse für
patriotische Heuchler. Vor allem aber waren sie seine eigenen Aus-
einandersetzungen mit sich selbst — seine Auseinandersetzungen mit
sich selbst über die wirkliche Beschaffenheit der Menschen, Classen,
Zustände, die ihn umgaben und ihn sich unterwerfen wollten. Sie
unterwarfen ihn sich nicht. Aber eine unsägliche Mattheit der Des-
illusionierung schlich sich über ihn — und eine Sehnsucht, so zehrend
und verlangend, wie sie nur die erste Jugend kennt. Aber wacher,
viel wacher.

Dieser Schmerz des Lebens und diese Sehnsucht nach dem
anderen geben sich Ausdruck in dem kleinen, seltsamen und tiefen

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 19, S. 728, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-19_n0728.html)