Text
Wohlwollen, die beste Kameradschaft von russischer Seite zutheil
geworden und durch seine thörichte patriotisch-finnländische Tendenz-
macherei und das Misstrauen seiner finnländischen Landsleute hat er
Carrière, Vermögen, Zukunft verscherzt und wurde zu einem
Declassierten herabgedrückt. Seine Sympathien waren auf russischer
Seite, sein Geist wurde, durch den constanten Druck, der auf sein
Ehrgefühl, seinen esprit de corps ausgeübt ward, auf finnländischer
festgehalten. Wo gehörte er hin?
Tavaststjerna lässt eine erdichtete Gestalt, die viele seiner Züge
trägt, diese Frage stellen, und die Umstände beantworten sie damit:
Nirgend! Du alterst hier zwecklos im Süden. Zwecklos im Süden
hätte auch Tavaststjerna schon in jungen Jahren altern können, wenn
er gewollt hätte, und wäre auch von seinen rigorosesten Landsleuten
dafür nicht gescholten worden. Er hat sich auch diese Alternative gestellt.
Und er hat sie sich auch beantwortet. Er hat sie in einer anderen
Erzählung beantwortet, worin er fragt: warum soll ein Finnländer
nicht russischer Censor werden, wenn er dadurch seinen Kindern
künftige Versorgung und gute Erziehung, seiner Frau Befreiung von
den täglichen Nahrungssorgen, sich selbst einen längstersehnten Pelz
und eine gute Nachmittags- und Abendcigarre verschaffen kann? Warum
wird ein solch bescheidener und guter Familienvater deswegen von
seinen Landsleuten verachtet und gemieden?
Ja — warum soll solch ein Mann weder russicher Censor, noch
der grosse finnländische Dichter werden, zu dem er das Zeug hatte?
Während ich dies frage, steht er wieder vor mir, wie er im
Leben war: eine mittelgrosse, breitschulterige, corpulente Gestalt mit
weichen Bewegungen und leiser, weicher Sprache, mit kleinen runden
Händen und einem kleinen Kopf auf fleischigem Hals, aschblond und
kurzgeschoren, mit grauem, schläfrig-munterem Blick, wohlgeformter,
etwas aufwärts strebender Nase, die Hautfarbe gelblich und undurch-
sichtig — der Typus des Russen. Grazie, Melancholie, Humor, ein
Durchgänger und Quietist, ein zärtliches Kind und ein böser Bube;
aber alles in ihm dominiert von dem Lyriker, der sein innerstes Wesen
und die Grundnote seines Temperamentes war.
Zu durchschauen war Tavaststjerna nicht, und das war auch das
Russische an ihm. Man wusste nie, wo man ihn hatte. Er war der
gesellschaftlichste Mensch, umgänglich, interessant; aber mir schien,
dass er sich am festesten zuknöpfte, wenn er und alles um ihn herum
in Mittheilsamkeit schwamm. Mitten in der Entfaltung seiner gesell-
schaftlichen Talente, als charmanter maître de plaisir, konnte ein
Moment kommen, wo es verzweifelt danach aussah, als ob er seinen
bewundernden Kreis nicht so wohl unterhielt als zum besten hielt.
Ich sah ihn einmal in einem Kreise südschwedischer Honoratioren
auf dem Lande. Er war da unerwartet und — wenn man von einem
Manne von so guter Herkunft das sagen kann — auch ziemlich
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 19, S. 730, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-19_n0730.html)