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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 19, S. 732

Text

732 MARHOLM.

In seinen letzten Lebensjahren war Tavaststjerna sehr taub und
als ich ihn zum letztenmal sah, erschien er mit einem Metallplättchen
zwischen den Zähnen, um durch diese Leitung auf eine mir unerklärt
gebliebene Weise hören zu können. Gleichzeitig aber wurde erzählt,
dass er in einem Kreise von Trinkgenossen, als einer derselben im Ver-
trauen auf Tavaststjernas Taubheit eine unanständige Bemerkung über
eine Tavaststjerna nahestehende Dame machte, diesem prompt eine nach-
drückliche Ohrfeige versetzte, die schweigend acceptiert worden sein soll.

Ich möchte diese paar Anekdoten mit einer dritten schliessen,
in der mir der Grundzug in Tavaststjernas zusammengesetztem Wesen
enthalten zu sein scheint, so klein und unbedeutend der Vorgang war.
Während eines Aufenthalts von uns in Schonen erschien Tavaststjerna
zum Besuch, gleichzeitig während andere Personen auf der Durchreise
sich am Ort aufhielten. Die anderen kamen, giengen, machten Besuche
und kamen wieder, aber Tavaststjerna rührte sich nicht vom Fleck.
Er hatte sich gleich beim Eintritt in einen Gartenklappstuhl nieder-
gelassen, der aus Mangel an anderen Möbeln in unserer einfachen
Wohnung als Lehnstuhl fungierte. Dort sass er, las, rauchte, plauderte,
vor allem aber — er sass. Der Klappstuhl, der weder auf ein solches
Gewicht, noch auf eine solche Beharrlichkeit eingerichtet war, gieng
aus den Fugen und Tavaststjerna sass auf der Diele. Unverdrossen
stand er auf, untersuchte den Stuhl, brachte ihn zurecht und liess sich
wieder in ihm nieder. Nach einer Weile klappte der Stuhl wieder
auseinander, Tavaststjerna richtete ihn wieder und setzte sich wieder
hinein. Ich bot ihm nun jeden andern Stuhl, das Sofa, den einzigen
vorhandenen Lehnsessel an. Tavaststjerna wies eigensinnig jede Ver-
änderung ab und blieb in seinem Klappstuhl, der immer wieder von
Zeit zu Zeit den Dienst verweigerte und immer wieder mit unerschütter-
licher Geduld dazu angehalten wurde. Tavaststjerna führte den Kampf
mit dem Stuhl weiter, bis die anderen Besuche abgereist waren. Dann
— sehr zögernd, mit vielen Kunstpausen — begab auch er sich zur Bahn.

Und so sagte er in einem seiner schönsten Bücher — »Laureatus« —
in köstlichen, tiefen, geheimnisvollen Gedichten der Welt Lebewohl
und schied von hinnen — ein Patriot ohne Vaterland. Und wenn ich
an ihn zurückdenkend sein Leben überschaue, der mein Landsmann
war — denn wir sind beide in Russland geboren — dann muss ich
sagen: er war kein Finnländer, so wenig wie ich eine Baltin bin oder
war. Für Menschen, die sich nicht aufs engste und blos nützliche,
auf Standesgefühl und Classeninteresse zu beschränken vermögen,
kann ein Colonistenland kein Vaterland sein. Das Vaterland ist nur
da, wo der Bauer vom selben Stamm, von derselben Sprache und
derselben Art ist wie der Höchstgeborene, wo alle aus Bauern hervor-
gegangen sind und ihre Wurzeln bis zurück in den Bauernstand
führen wie der Baum in die Erde.


Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 19, S. 732, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-19_n0732.html)