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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 19, S. 745

Text

SECESSION DER BLUMEN.
Von M. KRONFELD (Wien).

Von der Secession in den Blumensälen gieng ich eines Tages
zur Sécession am Lugeck, der Teppichsecession. Statt des unentwirr-
baren Durcheinanders von Thier-, Blumen-, Phantasiemotiven und grellen
Arabesken sah ich hier den einfarbigen Fond des Teppichs von einem
Rahmen umgeben, in dem eine Blume, stilisiert und doch botanisch
erkennbar, das Um und Auf bildete. Vorausgesetzt, dass nicht über
die ganze Fläche dieselbe Blume gestreut war, wie bei dem Teppich
mit leuchtenden Mohnblumen. Schlanke Lilien, weisse Seerosen, die
gelben Schwertlilien des heimatlichen Weihers, feingegliederte Farn-
kräuter und Kastanienblätter, die sich in ihrer Stilisierung zum wirklichen
Fingerblatt verhielten, wie die »Lilie der Bourbonen«*) zur »Lilie
des Feldes«, das waren die häufigsten Leitmotive. Selbst das ausge-
zackte Blatt und die schimmernde Fruchtkugel eines mit Füssen ge-
tretenen Unkrautes, wie es der Löwenzahn der Praterwiesen ist, waren
auf einem der Teppiche artig verwendet. Und einer der Teppiche in
der Teppichsecession führte das auf Jahrtausende zurückgehende Lotos-
motiv vor. Lotos stilisiert, aber nicht anders, wie ihn antike Kunst
stilisierte. Alles schon dagewesen

Die wahren Secessionsblumen haben sich die Künstler bisher
entgehen lassen: die Orchideen. Goethe hat sie »monströse Lilien«
genannt und damit wohl gemeint, dass sie sich mit bizarrer Form aus
dem regelmässigen Stern der Liliaceen herausgebildet haben. Die
Orchideen hat die Natur in ihrer glücklichsten Stunde geboren. Sie
sind so seltsam-schön, so wundersam-vielformig, dass man mit vielen,
vielen Worten ihre Eigenart nicht zu schildern vermöchte. Mit gleichem
Entzücken wird man immer wieder diese zauberhaftesten der an Farbe
und Gestalt so unerschöpflichen Blumen bewundern. Mit scharfem Contur
sind sie wie aus Porzellan geschnitten und haben, von den düstersten
bis zu den himmelhellen Tönen, alle Abstufungen. Raketen von Blüten,
deren jede dem Schmuckkästchen einer Fee entnommen zu sein scheint,
steigen von diesen Cattleyen und Oncidien auf. Der Vanda-Stock weist
nur wenige, aber unsagbar herrliche Blumenaugen auf. Und diese Cypri-
pedien, würdig den Fuss der Venus oder eines ihrer holdesten
Genien zu schmücken, brauchen nicht erst stilisiert zu werden; sie
sind es schon von der Schöpfung her. Hier glaubt man in einer mit
schmelzendem Email überzogenen Blüte einen schillernden Colibri,


*) Eigentlich eine Iris!

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 19, S. 745, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-19_n0745.html)