Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 19, S. 744
Text
Ein schreckliches Tosen hat die Lehrerin aufgeschüttelt. Sie ist
geblendet von einem flüssigen Lichte, das aufzuckte wie die Klinge
eines ungeheuren Messers Aber nein, es ist nur der erste Blitz
des Unwetters, der natürlichen Folge des schwülen Tages Die
Kinder um sie verlängern noch ihre Siesta. Und Santo, ihr Liebling?
Sie hat diesen Lockenkopf, diese hohe Stirne, diese rosigen Lippen,
selbst diese geballte Faust schon anderswo gesehen. Erkennst Du mich?
Ah! der Jüngling, der Königsmörder, der Hingerichtete! Er ist es
Sie wird fast ohnmächtig und sinkt zurück, löst sich von ihren Lippen
ein Gebet oder ein Schrei des Entsetzens?
In diesem Moment hebt sich der süsse Blondkopf, öffnet grosse
saphirblaue Augen und begegnet dem angsterfüllten Blick der gütigen
Lehrerin. Ah, der Kleine, der Geliebte, Geliebteste Mit einer
jubelnden und doch von Jammer vollen Bewegung, wie die Jungfrau,
die nach der Verkündigung in ihrem erleuchteten Geiste auch die
Schrecken des Calvarienberges sieht, stürzt sie sich auf den Kleinen,
umarmt ihn, erstickt ihn fast mit Küssen. Immer lächelnd, sieht er sie
staunend an, versteht noch nichts, weiss nicht, warum dieser plötzliche
Herzenserguss und was dieses Messer soll in seiner Hand.
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 19, S. 744, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-19_n0744.html)