Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 19, S. 743

Die Unterrichtsstunde (Eekhoud, Georg)

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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 19, S. 743

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DIE UNTERRICHTSSTUNDE. 743

deren Azurblau aller Schrecken sich birgt, wie die Wolken unter dem
schnee- und sternenbedeckten Gipfel der Jungfrau — diese zwei wären
nur einer!

»Es ist so. Es lebe die rothe Löwin! Und was Du auch seist,
ich, ich segne Dich, tapferer Bursche der »Canaille«, jetzt die leidens-
volle, dann die streitbare, morgen die triumphierende Kirche! Denn
diese Race der Reichen muss wohl hassenswert und verbrecherisch
sein, da so schöne, begabte, mit allen Reizen geschmückte Jünglinge
wie Du, mein Santo, glauben, dass es blutiger Repressalien gegen sie
bedürfe! O Santo! Wie verbrecherisch ist diese Brut, dass sie Deine
sternenklaren Augen, die nicht lügen können, die das Lächeln und
das Entzücken eines ewigen Frühlings spiegeln sollten, nun das
Roth des Sonnenunterganges, das noch brennende Roth des anbrechenden
Morgens widerstrahlen! Ich segne Dich, gegen alle; und ich wollte
Magdalena sein auf Deinem Kreuzeswege! Wie priese ich Dich, voll
Verachtung für die heulende Meute auf Deinem Weg. Einst, kleiner
Santo, hob Dich eine andere Menge bis in die Wolken, und doch
bist du heute tausendmal besser und anbetenswerter denn damals, als
Kindchen in der Frohnleichnams-Procession! Deine himmlische
Schönheit reizt die Meute gegen Dich, aber Du missachtest ihre Lieb-
kosungen Ah! die thörichten Mütter, die Dich umarmten und ver-
götterten seinerzeit auf den Lippen ihrer Kinderchen, und die heute,
schäumend vor Wuth, mit Kieselsteinen die Händchen ihrer Kleinen
bewaffnet haben, dass sie sie auf Dich schleudern. Und die Unnützen,
die Feigen, die Kniebeuger, die Niedrigen — sie werden sich weiden
an Deinen letzten Zuckungen und auf Deinen halbgeöffneten Lippen den
Kuss suchen, den Deine Seele der fernen Brüderlichkeit sendet!

O Santo, welche Herodiade hat Dein Haupt verlangt! Sie hat
getanzt, die scheussliche Courtisane, das schreckliche Schicksal! Wer
wird Dir Gnade spenden, wenn kreischend, brüllend, klaffend der Schrei
des bedrohten Goldes sich erhebt? Die Bäuche und die Goldsäcke —
sie können Dich dem tanzenden Thier nicht verweigern. Und all die
Deinigen, welche die Tänzerin zu den stolzen Thronen der Freiheit,
des Überflusses hätte führen können, die lieben Zungen, die sie hätten
preisen können in einer Apotheose höchster Glückseligkeit, sie lässt
sie lieber Hungers sterben, altern, welken vor der Zeit. Zum Orchester
wünscht die schreckliche Tänzerin das Röcheln der Hungers Sterbenden,
das Geschrei der Industrien-Opfer, der Militärbagnos, die Detonationen
brudermörderischer Salven, die Kesselexplosionen und schlagenden
Wetter! Sie tanzt, sie tanzt vor den gierigen Alten mit den
räuberisch gekrümmten Fingern, die Gold begehren, immer Gold
Zitternd und feige, entnervt durch die Sprünge der Tanzenden, haben
sie der Eklen nichts zu verweigern! Ja, nimm sein Haupt, modernde
Gesellschaft, Schänderin der Güte, mäste Dich an dieser Jugend, stopfe
Dir den Hals mit ihr, o Polyp, der nur Schönheiten für Leugner der
Gerechtigkeit und des Lichtes hat! Auf zur Mahlzeit! Da ist die
Guillotine. Eilen wir uns!«

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 19, S. 743, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-19_n0743.html)