Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 19, S. 742

Die Unterrichtsstunde (Eekhoud, Georg)

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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 19, S. 742

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742 EEKHOUD.

Zinken, von flatternden Bannern und brennenden Lichtern, in einen
immerwährenden Hosanna- und Vivat-Jubel. Eine Apotheose am Abend.

Plötzlich steht der bleiche junge Mann mit der weissen Mütze
vor ihr. Er zieht aus seiner grauen Weste einen Dolch, er schwingt
ihn, seine rothen Lippen werden bleich, seine Augen sind wie
magnetisch angezogen, man weiss nicht von welcher Spur; seine
Pose ist gekrümmt wie die eines Menschen, der auf etwas losstürzen
will, das eine Bein vorgestreckt, angestemmt das andre; und mit
einer heftigen Bewegung stösst er ins Herz der Apotheose. Man hört
ein Geräusch wie von einem jählings freigewordenen Wasserfall. Dann
Lärm, Jammer, Schreien und Verwünschungen. Der Aufruhr trägt den
Zeugen des Opfers mit sich fort »Wo bist Du, Santo. Der Weih-
rauch durchduftet nicht mehr Deinen kindlichen Weg. Was liessest
Du Dein Goldkreuz fallen! Und das Lamm! Ah, es handelt sich wohl
um eine andere Hostie! Das ist die Löwin, die gelblich-rothe,
die Du am Seile führst!«

Bald nachher, ein trüber Morgen mit schmutzig grau-blauem
Himmel, in derselben grossen Stadt, die nicht Mailand ist, gerade zu
der Stunde, da die Bäcker wie Du ihr Brot backen, mein Santo.
Klirrende Säbel in der Faust, sprengen grosse Männer zu Pferde durch
die blutgierige Menge. Ein hässlicher Morgen. Es ist auch die Stunde,
wo die Arbeit beginnt in den Schlachthäusern. Zurück! Vade retro!
Noch einmal, mit convulsivischem Zittern, legt die Dichterin die Feder
nieder und betrachtet den Schlaf des kleinen Santo, um die furchtbaren
Bilder von sich zu weisen. Caro e dolce poverino!

O, wie sie ihre Gedanken rückwärts zu wenden wünschte, die
Seherin, zu den Blumen, zum Weihrauch, zu allen diesen milden,
seligen Reinheiten! Aber unerbittlich wandelt sich der friedliche Zug,
man weiss nicht warum, in eine lärmende Cavalcade, in welcher sie
vergeblich das Bild des kleinen Saint Jean festzuhalten sucht. Sie
sieht den Kleinen sich ihrem Rufen entziehen, sich wandeln in den
grossen, blonden und rosigen Knaben, sanft und milde, der feierlichen
und dichtgedrängten Schrittes in den hässlichen Morgen voll Schmutz
und Nebel wandelt, geführt von bewaffneten Leuten. Der Geist der
hysterischen Dichterin unterscheidet nicht mehr zwischen dem Kinde
und dem jungen Manne, dem Kindchen, das am Seile das gekämmte
Lämmchen führte und dem Jüngling mit der rothen Löwin, den
grinsende Opferdiener gefesselt dahinführen. Lange schon haben die
Fleischer das Lamm Baptiste’s getödtet. Und der kleine Hirte wird
mit seinem Lämmchen wieder vereint werden. War er nicht der
Vorläufer? Nun muss er seine Rolle bis zu Ende spielen. Und am
Ende solcher Lebensbahn steht oft die Enthauptung

Wie, der kleine Saint Jean, der ausgelassene Schafjunge und
dieser grosse und starke Jüngling, mit einem Antlitz zu sanft für
seinen Beruf, mit Blicken zu poetisch für all das, was unsere flachen
Zeiten an Poesie kennen, wie, der kleine Bäckerjunge von Mailand
und dieser Ausgestossene, dieser Opferer mit den gütigen Augen, in

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 19, S. 742, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-19_n0742.html)