Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 19, S. 741

Die Unterrichtsstunde (Eekhoud, Georg)

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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 19, S. 741

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DIE UNTERRICHTSSTUNDE. 741

der Zuneigung und das Vergnügen, sich zu geben, sich selbst zu
opfern in unendlicher Zärtlichkeit O, diese lachenden und frivolen
Genossinnen, die ein weinerliches Gesicht machen, wenn ein Vögelchen
aus dem Nest fällt und welche die stete menschliche Tragödie gleich-
giltig lässt, deren Vollführer sie oft sind, Vollführer, nicht immer
ohne es zu wissen Ah, diese Liebhaberinnen, welche sich die
Natur, die die Ewigkeit der Sterblichen will, abrichtet und bethört
durch einen Blitzstrahl der Unendlichkeit. Ich habe für sie eine
biblische Abneigung. Sie sind die Störerinnen und Ablenkerinnen,
welche alle menschenfreundlichen Gedanken und alle männlichen
Wünsche umwerfen. Sie ergeben sich nur um einzuschläfern, um
die Stärksten und Heftigsten zu verkleinern und zu erniedrigen.
Sie untergraben diese Riesen, zu deren Füssen sie sich heuchlerisch
hinstrecken. Sie sind die Mahnungen des Egoismus zu der ver-
dammenden Gleichgiltigkeit, der Lossagung von unserer Pflicht. Für
die Tausende von rohen Thieren, welche sie der irdischen Ent-
wicklung liefern, haben sie die Begnadeten, die Genies, die über-
menschlichen Seelen scheitern lassen! Wenn sie in Schmerzen gebären,
rächen sie sich für ihre Leiden, indem sie diesem verdammten
Planeten neue Beute ausliefern und mit einer entarteten Freude, mit
entzückten Augen auf den Einzug der Traurigkeiten, Schrecken und
Enttäuschungen lauern!

Nein, ich werde nie auf ihre listigen Stimmen hören Ich
werde den galanten Lehren widerstreben, und was auch später der
Richter sagen möge, gierig danach, mich zu beschmutzen und hassens-
wert zu machen den Mänaden und brünstigen Wölfen, ich bin rein und
werde jungfräulich sterben, da ich mich für die Liebe aller bewahrt
habe! Du, die einfache, die Jungfrau, Du darfst diese Dinge hören,
denn, ohne dass Du es weisst, bist Du tausendmal mehr meine Mutter,
als irgend eine, die mich natürlich zeugte Wenn ich jemals
einer Liebenden schmeichelte, so war es der rothen Löwin mit den
glühenden Zitzen, mit der Milch von geschmolzenem Blei, der Löwin,
deren Mähne die Fackeln der neuen Eiferer entflammte und an deren
Klauen die Dolche jener sich schärfen werden, welche die Pflichten
und Gesetze der Menge abgeschworen haben! «

»Genug, genug!« fleht die Arme, welche sich die Augen ver-
hüllt, um nicht mehr zu sehen. »Du hast gelogen. Zurück mit dieser
Löwin der Hölle und ihrem finsteren Führer. Weg von mir und Santo.

O nein, diese Hände, welche ich liebe, diese kleinen Händchen
werden ihre Finger nur gebrauchen, um das weisse Mehl zu unserem
täglichen Brot zu kneten! Nicht wahr, Santo?

Kleiner Bäcker, sie sagen, dass Du eines Tages kein Brot mehr
wirst kneten wollen, weil nicht alle Armen davon essen O, bleib
in Mailand, bleibe bei Deinem Berufe, bleibe!«

Aber da ist sie plötzlich entrückt, getrennt von ihm, jäh in eine
grosse, Feste feiernde Stadt versetzt, wo ein ruheloses wirres Treiben
lärmt, in einen Wirbel von Trommeln und Pfeifen, Trompeten und

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 19, S. 741, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-19_n0741.html)