Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 19, S. 740
Text
Vor der erstaunten Lehrerin erhebt sich ein grosser Junge von
zwanzig Jahren, mit breiten Schultern, mit starken Händen, festem Rücken,
bartlos, blond, ambrafarbigem Teint, mit ekstatischen, fast erschreckten
Augen, angenehmen Zügen, feierlich wie in einer fortwährenden Tragödie,
ein kaum wahrnehmbarer Flaum liegt über seiner Oberlippe. Sein
Wesen — sagt sich die Seherin — ist das eines heimatlosen Verbannten,
bestürzt, als käme er eben von der Scheere des Haarschneiders oder
besser, nein, schlimmer noch, eines Gefangenen, dem man die Haare
schneidet und den man im Vorraum der Gefängnisse abmisst und der,
mit dem irren Blick eines Nachtwandlers, nur Roth und wieder Roth
sieht. Eine Mütze aus weissem Tuch mit einem geraden Schirm, wie
sie Seeleute tragen, umschliesst die üppigen Locken seines Kopfes und
eine blaue Cravatte passt zu seiner weitausgeschnittenen Weste. Eine
Pause, ein Athemanhalten der tobenden, erregten Menge, deren Mittel-
punkt er bildet, bringt ihn — dauert es eine Secunde oder noch kürzer
— vor die entrückte Seherin. Erfasst von ihren Händen, spricht er
mit leiser Stimme, fast flüsternd, für sie allein: »Erkennst Du mich?
Nein? Ich bin doch einer der Deinen. Ich bin der Aufgerüttelte, der
Erlöser, den Du ersehntest Sieh mich doch recht an.«
Sie will widersprechen, aber wie während eines Alpdrückens
schliesst ihr eine Faust die Kehle und sie sieht ihn gerade an, erstarrt
vor seinem überzeugenden Sanftmuth, vor dem melancholischen Lächeln,
welches auf seinen Lippen erblüht, diesen etwas zu grossen, aber so
rothen Lippen, diesen appetitlichen, starken, italienischen Lippen, vor
der zauberischen Zärtlichkeit seiner blauen Augen — dieses Blau-Violett
von Parma — dieser Augen, welche die äusserste Güte dieser Lippen
noch liebreicher macht.
»Du hältst mich für einen friedfertigen Burschen« — tönt die
Stimme — »ziemlich weich, ein bisschen schläfrig, ein Zeitvertrödler,
von jeder Kleinigkeit ergötzt, für einen, der junge Mädchen pflückt
wie ehedem Aprikosen und Maulbeeren von den Geländern des Präfecten,
den Werkstätten ausweichend, so wie ich ehedem Deine Lectionen
schwänzte, o, meine grosse Schwester. Du hältst mich für einen von
jenen, die zurückbleiben und sich vergessen, Ohnmächtige, zur Beute
irgendeiner geschickten Dirne, welche bartlose Jungen übertölpelt.
O, theure Denkerin, wie Du Dich verrechnest!«
Und sein Lächeln belebt sich fieberhaft, so sehr, dass es scheint,
als ob sein Mund blute in seinem erblassenden Antlitz, und er schüttelt
ernst den Kopf. Das ist — scheint es der Lehrerin — als wenn der
Hals nervös, aber mit einer spöttischen Feinheit über die mächtige
Brust herabfiele, bereit zu brechen, wie ein Stengel unter einer allzu-
schweren Blüte.
»Höre, es hat mich in einen Widerwillen gegen die Ver-
gnügungen meines Alters und die Beschäftigungen meiner Zeit getrieben.
Ich liebe nicht die Sitten anderer Menschenkinder. Ich habe von
Aufopferungen und Gemeinsamkeiten ohne Ende geträumt, ohne
Nützlichkeit, ohne natürliche Rechtfertigung durch die einzige Tugend
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 19, S. 740, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-19_n0740.html)