Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 19, S. 739

Die Unterrichtsstunde (Eekhoud, Georg)

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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 19, S. 739

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DIE UNTERRICHTSSTUNDE. 739

sagt sie den Namen des lieblichen Schläfers vor sich hin und dieser
Name schon: Santo, ist für sie ein Gebet. Ein Gebet, welches imstande
ist, sie von den fürchterlichen Träumereien, denen sie sich eben hin-
gibt, zu erlösen.

»O, mein Gott,« betet die gute Seele, »wenn er doch die Nieder-
trächtigkeiten, die Schmutzereien, die Vergiftungen der hässlichen
Geschäfte des Lebens nie kennen lernen würde! Schütze diese edle
Pflanze, o Natur, vor dem Hauch der Werkstätten. Möge niemals
das Fieber der Stadt seine Wangen welken machen und den Pfirsich-
hauch seiner Sammthaut verwischen.«

Und sie denkt: »Gestern noch, beim Frohnleichnamsfest, sah
Santo, als kleiner Johannes der Täufer, zum Anbeissen hübsch aus:
Das Schafsfell über die Schulter geworfen, mit seinem blauen, gold-
beränderten Processionshemd, seinen nackten, rundlichen Beinen, seinen
lockigen Haaren, ein Kreuz aus Gold an Stelle eines Hirtenstabes, ein
ganz weisses Lämmchen an der Leine führend. Santo gieng in der
Procession, lieblich, fast eucharastisch. Wie der Weihrauch ihn umhüllte
und wie hell die Kerzen brannten. Einige von ihnen waren mit rothen
Bändern umwunden, Körbe von Rosen bluteten unter den Pfeilen der
Sonne. Hymnen, milde wie Honig, erfüllten diesen frommen Morgen.
Diese Musik, süss und doch entnervend! Und die Bauernjungen, die
Knechte jubelten Dir von Herzen zu, kleiner Santo, Dir, als einem
Theil ihres eigenen verklärten Blutes und ihrer in das Brot des Herrn
verwandelten rauhen Bauernhaut. Die glücklichen Mütter, ein bisschen
eifersüchtig, eilten zu Dir, fast weinend. Und als sie Dich vorbeigehen
sahen, knieten sie nieder, mit ihren Kindchen am Arm, umarmten sie
demüthig und träumten sie in glücklichen Stunden, etwa als kleine
Tagesheilige, Santo, wie Du! Agnus Dei qui tollis peccata mundi!
Lamm des Herrn, welches die Sünden der Welt auf sich nimmt.
Armer Kleiner, wo wirst Du in zehn Jahren sein? In der Kaserne,
im Spital? In welcher Procession wirst Du hoch mitgehen! Zu welchem
traurigeren Weg als diese Procession wirst Du noch gehen? Nein,
halt’ ein!«

Was für hässliche Sorgen? Hier doch wäre der letzte Ort, wo
sie solche Beunruhigungen befallen sollten? Ist es die erstickende Hitze,
welche diese finsteren Voraussagen gebiert? Welche ungewohnte
Angst ergreift sie bei dem Gedanken an den schlafenden Knaben?
»Santo, was hast Du gethan? Sprich, was hast Du Lust zu thun?
Sag’ es mir, rasch!«

Vergeblich ruft sie die Erinnerung wach an die friedevolle Procession
des Vortages, um das Zuströmen dieser schrecklichen, finsteren Bilder
von sich abzuwehren. Ihre Ahnungen ähnelten dem dichterischen Schauer
der Sibylle auf dem Dreifuss. Was sie da wiederschauen, woran sie
sich wieder erinnern will, das entgleitet ihr, bildet sich in Visionen um,
die nichts gemein haben mit ihren Erinnerungen. Dieser fromme Auf-
zug verwandelt sich in einen düsteren, unruhigen Aufmarsch, einer
Menge, die einherstampft oder einherjagt wie der Sturm.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 19, S. 739, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-19_n0739.html)