Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 19, S. 738

Die Unterrichtsstunde (Eekhoud, Georg)

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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 19, S. 738

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738 EEKHOUD.

Rückgrat zu krümmen, sich aufrichtet, sein Recht verkündet, ja selbst
so weit geht, zu tödten

Himmel, welche Flammenworte wagt sie hinzuschreiben. Sie
erhebt die Augen von der sengenden Heftigkeit ihrer Worte und wendet
sie zu diesem lieblichen Parterre von Kinder-Blüten. Welche Milde,
welche vollkommene Sorglosigkeit! Wie konnte sie solche schauerliche
Bilder wachrufen angesichts dieser Menschheits-Morgenröthe.

Ist es schlecht, was sie da thun wollte? Trauerndes Mädchen,
allzulebhaft an Einbildungskraft, warum bringt nicht auch sie Kinder
zur Welt? Solche Bilder und Gesichte würden dann nicht in ihr auf-
tauchen. Wenigstens würde sie durch diesen gebieterischen Instinct
sinnlicher Gluten lernen, was die Natur, das elementare Leben will,
sie würde beruhigt sein, ohne Phrasen und ohne Grübeleien, über das
einfache Warum unseres Hierseins, unserer Erdenwege. Warum wendet
sie ihre Gedanken nicht an anderes? Was nützt es in der Zukunft
leben? Nur die seiende Stunde und den unmittelbaren Moment umfasst
die Pflicht! Wozu träumen, trauriges, allzunachdenkliches, armes
Mädchen! Es ist so einfach zu leben als Kind, Geliebte, Mutter,
und zu sterben, ohne geforscht zu haben nach anderen Schicksalen und
Gesetzen, als denjenigen, welche die Mehrzahl, die Gesellschaft fest-
gestellt hat.

Ruhe, allzugrosses Herz, ruhe! Es ist schändlich, so ins Blaue
hinein hartnäckig zu Gedanken an das Elend und den Tod anzureizen,
vor diesen Kindern, vor diesem wärmlichen Nest mit Jungen. —
Bedenke, dass Du durch diese lyrischen Schilderungen ein Schicksal
heraufbeschwörst über diese lieblichen Köpfchen, welchen Du diese
Gaben der Vorsehung lieber ersparen wolltest.

Sieh, diesen hier, gute Träumerin, hafte Deine visionären Augen
auf einen dieser Gassenjungen, den schönsten der Classe. Er ruht ein
wenig aus, sein pausbackiges Gesicht lächelt unter den langen blonden
Wimpern. Seine Händchen halten mit einem energischen Griff ein
schartiges Taschenmesser, womit er seinen Bleistift spitzt, und seine
etwas dicken, aber blutrotben Lippen spitzen sich zu der hübschen
Grimasse eines Gassenjungen, dein man ein Spielzeug wegnehmen will.

Sicher ist er der hübscheste von allen, so mollig, so rosig, aber
auch der ärmste von allen. Ein nachdenkliches und schweigsames
Kind mit plötzlichen Anfällen von Geschwätzigkeit und Fahrigkeit,
ein phantastisches, eigensinniges Kerlchen. Trotz der Milde und Zärt-
lichkeit der Lehrerin meidet er oft die Schule, um fortzugehen, weit,
sehr weit. Ohne Zweifel, er träumt jetzt von kleinen Raubzügen auf
Maulbeerbäume und einer hübschen Ernte auf Pfirsiche und Pflaumen.
Die Lehrerin hatte sich an diesen Wildfang gewöhnt, der wie aus
rosa Marmor zu sein schien, wenn ihn nicht öfters eine Schichte von
Schmutz überzogen hätte wie eine Bronze von Donatello. Oft denkt
sie, nicht ohne Melancholie, dass der Kleine im nächsten Sommer
zehn Jahre wird. Seine Eltern, unterste Taglöhner, werden ihn
nach Mailand schicken wollen, als Lehrjunge zu einem Bäcker. Leise

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 19, S. 738, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-19_n0738.html)