Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 19, S. 737

Die Unterrichtsstunde (Eekhoud, Georg)

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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 19, S. 737

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DIE UNTERRICHTSSTUNDE. 737

Ganz voll von Mitleid, träumt sie in mütterlicher Zuneigung
Träume von Ruhe und Sonne für die Kleinen.

Dass sie nicht die Fee ist mit den magischen Geschenken, die das
Unglück beschwören und über diese Häupter einen Regen von Freude,
Heiterkeit, Licht und Zärtlichkeit senden könnte! Dass sie nicht ihnen,
wie den einfachen Wiesenblumen, die lebengebenden Säfte sichern kann,
um die Sammtfrische ihrer lieblichen Antlitze zu erhalten. Sie weiss,
was ihnen schon jetzt, an der Schwelle des Lebens mangelt, sie kennt
die noch viel härteren Entbehrungen, die folgen werden, die Unge-
rechtigkeit, das Missgeschick, das auf sie lauert.

Ach! So gar nicht das heranrückende Elend entwaffnen, diese
junge, schöne Menschenblüte gegen die Holzknechte und gewerbs-
mässigen Heumacher schützen können! Nur die arme Dichterin zu
sein, voll Schmerz und Mitleid, die sie alle so sehr liebt, aber
ihnen nichts geben kann als ihre Thränen und ihre Verse des Er-
barmens

Ihre Verse feuchten das weisse Papier wie ihre Thränen das
Taschentuch. Sie forscht in die Zukunft ihrer Schüler. »Arme Hecken-
blumen, Wald-Nachtigallen — was werden sie sein in zehn Jahren?
Feil oder verkommen, Lügenerzähler, geduldige Handwerker oder
Taschendiebe, Sclaven der Werkstätte oder knirschende Arbeiter im
Gefängnis. Wo wird sie sie wiedersehen, in der Kaserne, im Spital,
in der Morgue, auf dem Bagno, auf dem Schaffot ?«

Pfui, welche finsteren Ausblicke in die Zukunft rief sie da wach!
Sehnsuchten und Wünsche sind sonst der Inhalt ihrer Dichtungen;
sie trocknet die Thränen, ohne daran zu denken, jene zu beschmutzen,
die sie fliessen machten; sie verbindet die Wunden der Opfer, ohne
sich zornerfüllt gegen die Henker zu wenden!

Heute ist ihre Einbildungskraft viel grausamer, und ihre Verse
athmen Zorn. Ungeduld mengt sich in ihre Evangeliums-Milde, eine
ausserordentliche Unruhe überfällt sie.

»Italien, Italien, wirst Du nie etwas anderes sein als eine Mutter
mit verdorrten Brüsten für die Tausende Deiner Kinder, welche Deine
gotterfüllten Dichter und schöpferischen Künstler begeistert hätten?
Was wird aus diesen werden, aus diesen Kleinen, welche ich lesen
lehre, die ich, so lange es angeht, mit meinen Fittigen schütze.
Werden sie auch später noch lesen? Und welche Bücher? Zu welchen
Erziehern werden sie kommen als Jünglinge, als junge Männer?
Werden sie immer nur Leuten begegnen, die gewaltthätig und
räuberisch sind, um die ganzen Kräfte und Säfte jener, ihre Energie
und herrliche Entwicklungsfähigkeit Geldgewinnungs-Maschinen dienst-
bar zu machen. Wie! Die edle italienische Erde soll nichts anderes
hervorbringen als stumpfe Heloten? Wie! Nicht einen freien Mann,
nicht einen Aufgerüttelten, nicht einen Überläufer aus den Armeen
der Frohnarbeiter! Nicht ein Erlöser voll göttlichen Opferwahns, der
eine Geste der Befreiung wagte, während alle andern festgeschmiedet
sind an die Galeeren der Sclavenarbeit? Nicht Einen, der müde, sein

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 19, S. 737, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-19_n0737.html)