Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 19, S. 736

Die Unterrichtsstunde (Eekhoud, Georg)

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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 19, S. 736

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DIE UNTERRICHTSSTUNDE.
Von GEORGES EEKHOUD (Brüssel).*)

Die junge Lehrerin, deren bleiches Antlitz eine überlichte Seele
widerstrahlt, hat eine Pause im Unterricht eintreten lassen. Es ist
ein drückender italienischer Nachmittag in der kleinen Classe der ganz
jungen Kinder von Motta-Visconti.

Durch die offenen Fenster mit den halb herabgelassenen Stores, die
ein spöttisches Lüftchen von Zeit zu Zeit sich blähen macht, wie die
Brust einer girrenden Taube, sieht man das grüne und fruchtbare
Land zu Füssen des Apennins. Zuerst die kreideweisse Dorfstrasse,
übergehend in eine Allee von Pappeln. Im Schatten der Maulbeer-
bäume liegen dicht aneinander die Erntebündel, dünne Weinranken
streben aufwärts. Getreide, Wein, Seide. Die Luxusware neben dem
Brote, das allen gehören müsste, dem Wein, der gleichfalls allen
Menschen Kraft geben und ihnen gestatten müsste, das heilige Abend-
mahl in beiden Gestalten zu nehmen. Die Seide, wer in Motta-Visconti
sieht sie im Leben anderswo als in den Maulbeer-Züchtereien?

Den Kopf auf ihren A-B-C-Büchern, schlafen die Kleinen, in
hübschen, mannigfaltigen Posen, die Gesichter in Grimassen verzogen
oder mit einem Lächeln auf den dicken Lippen, das schon zärtliche
Träume dorthin gezaubert. Ganz zerlumpt sitzen sie da, ihr Kleid ist
ein schmutzigbraunes Hemd, eine von Unrath starrende, von ungleichen
Hosenträgern kaum gehaltene Hose, ihre Füsse sind nackt. Lockige
und struppige Köpfe, fleischige, runde Wangen stützen sich auf die
steifen dicken Ärmchen — Wangen, die der Staub bräunt und das
junge Blut röthet. Ein zischendes, unregelmässiges Geräusch von starken
Athemzügen füllt das Zimmer und mengt sich mit den Summtönen
der fetten Blaufliegen.

Die Lehrerin, die arme Lehrerin mit der guten und leidenschaft-
lichen Seele, nützt diese Pause, um sanfte Lieder zu reimen, Lieder des
Jammers und Elends. Diese Atmosphäre der heranblühenden Unglück-
lichen, der Pariaskinder, gibt ihr mitleidsvolle und herzzerreissende
Dinge ein, und dieses früheste Alter der bäuerlichen Leibeigenen, diese
Keime einer steuer- und frohnpflichtigen Menschheit führen sie zu
schmerzhaft-traurigen Empfindungen; sie denkt, wie es werden sollte
mit diesen so unbenutzten und reinen Wesen, und wie es noch nicht
werden kann.


*) Deutschen Lesern sei bemerkt, dass Ada Negri Lehrerin in Motta-
Visconti war. Einer ihrer Schüler hiess Santo Caserio Die Red.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 19, S. 736, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-19_n0736.html)