Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 19, S. 735
Wilhelm Diefenbach (Fidus, Karl)
Text
Unsere grössten revolutionären Künstler, die schon durchgedrungen
sind, redend oder bildend, sind mehr culturkritisch als culturschöpferisch;
ich nenne nur Ibsen als Dramatiker, Nietzsche als Lyriker in weiterm
Sinne und Klinger als Bildner. Vielleicht ist es der Kunst des Wortes
überhaupt nicht so möglich, positive Schönheitscultur und -Cultus zu
bringen; denn gerade der Durst nach Schönheit, die Sehnsucht unserer
erkenntnisstrotzenden und machtprotzenden Zeit verlangt nach sicht-
baren Gaben. Es ist, als ob man der schönsten Worte genug hätte
und nun endlich Beweise, Thaten sehen wollte. Klinger gibt nun,
dank seiner greifbaren Kunst, noch am meisten von positiver Schön-
heit zu erkennen.
Ungeduldig wird der moderne Pflicht-Skeptiker nun fragen:
»was ist denn positive Schönheit?« und ich möchte darauf antworten
können: »kommt und seht!« Einstweilen muss ich sagen: Schönheit
ist sichtbare Seligkeit, von einer Kraft, die auch andere
beseligen muss. Die Norm dieser Schönheit hat sich freilich im
Laufe der Zeiten in steigender Entwicklung geändert. Deshalb können
uns, wenn wir ehrlich sind, auch die Gipfelpunkte der vergangenen
Schönheitsentwicklung in der Kunst nicht mehr von ganzem Herzen
genügen, die frühesten sogar abstossen. Und doch hat die grosse
Kunst, die das religiöse Bedürfnis stillt, jedesmal die Cultur der Zeit
gestempelt und die Volkskraft für ihre Schönheit begeistert; davon
erzählen uns die Ruinen.
Auch wir gehen einer neuen Schönheitscultur entgegen, nicht
bloss einer Renaissance-Periode, die sich, statt aus griechisch-römischem,
nunmehr aus asiatisch-buddhistischem Geiste befruchtete. Diese
Befruchtung zeigt sich allerdings bis in den Japanismus der bildenden
Kunst hinein. Es drängt uns aber nach mehr: die fremden Erdtheile
und Religionen sind uns kaum etwas Fremdes mehr; wir sind der
Jules Verne’schen und schopenhauerlichen Sensationen satt; wir
brauchen etwas Greifbareres als den Begriff der modernen Herrschaft
des Menschen über die Erde; wir brauchen einen Glauben, der
allgemeiner Wille ist, eine beseligende Religion, welche die neue Erd-
und Weltanschauung bekräftigt, heiligt und trotzdem — nein deshalb
— von Erden- und Weltenschwere erleichtert und erlöst — wir
wollen wieder einmal glaubhafte, greifbare, sichtbare Seligkeit!
Diefenbach ist ein Prophet dieser neuen Seligkeit, das zu bekennen
ist mir ein Bedürfnis, zum wenigsten war er es.
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 19, S. 735, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-19_n0735.html)