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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 19, S. 746

Text

746 KRONFELD.

dort wieder einen prachtvollen Falter zu erkennen, der, noch trunken
vom Nektarmahle, die metallischglänzenden Flügel öffnet, um sich
aufzuschwingen.

Sie passen zum modernen Milieu, diese Orchideen. Marcel Prévost
lässt sie in das Gemach der Verführung bringen. Verführerisch wie
sie sind, sollen sie auch andere berücken. Und kostbar sind sie als
Modelle. Nur ein König im Reiche der Kunst wird das Odontoglossum
Luciani mit 12.000 Francs bezahlen können und das Cypripedium hybridum
mit 4000. Um diesen Preis waren die Blumen vor einigen Jahren zu
haben und man hat die stolze Schönheit nach Gebür bezahlt.

Wem sie aber zu freudig in den Farben sein sollten, wer im
modernen Empfinden dem Schauer sich hingibt, dem sei berichtet,
dass eine neue Orchidee mit einzigem Farbenreichthum in einem Todten-
schädel nach England gebracht wurde. Die Bewohner von Timor setzen
die wertvollsten, vom Vater auf den Sohn vererbten, mit Lanze und
Pfeil im blutigen Kampfe vertheidigten Orchideen dorthin, wo ihre
theuern Todten liegen. Die lachende, verschwenderisch ausgestattete
Blume nickt über den grinsenden Zähnen, blickt aus den glotzenden
Augenhöhlen hervor — ein Gegensatz von Sein und Vergehen, wie er
packender und ergreifender nicht gedacht werden kann.

Die Modernen sollten der Orchideen achten!


Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 19, S. 746, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-19_n0746.html)