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oder von Tänzern. Die Gelehrten haben zu allgemeiner Zufriedenheit
nachgewiesen, dass die tragische Kunst die Bacchischen Schauspiele als
Ausgangspunkt hatte, welche von Winzern mit kothbeschmierten Ge-
sichtern dargestellt wurden.
Wir nehmen diese These als reichlich erwiesen an und schlagen
vor, sie noch weiter auszudehnen. Wir vermuthen, dass diese böotischen
Possen und Narrentänze die Nachkommen des Todtenritus waren.
Wenn die Tragödie der Komödie entstammte, so war diese Komödie
der Abkömmling einer früheren Tragödie. Die Maske der Grabfeierlich-
keiten rief bald Lachen, bald Weinen hervor; die Zauberer vermummten
sich mit ihr, tanzten, sprachen und handelten im Namen des Todten,
organisierten den Angriff und die Vertheidigung, leiteten die Unter-
nehmung der Jagd oder des Fischfangs, führten und irreführten die
Horde. Die Abgeschiedenen hatten ihren Tod dazu benützt, um sich
grausamer, gefrässiger und blutdürstiger zu zeigen als sie zu Lebzeiten
gewesen waren. Sie gefielen sich in Schändlichkeit und Prahlerei. Sie
schadeten sich gegenseitig, verhöhnten und verspotteten sich, wett-
eiferten in Lüge und Beschimpfungen und ihrer Grausamkeit kam nur
ihre Feigheit gleich. Die einst schrecklich gewesen waren, wurden
jetzt lächerlich. All diese Masken schufen Grimassen die ihnen mit
der Zeit zum ständigen Attribut wurden und es gab keinen Taugenichts,
der nicht seinen »Tic« entwickelt, keinen unfläthigen Gauner, der
nicht sein Laster und seinen Spitznamen gehabt hätte. Da erstand die
unsterbliche Schar der sieben Todsünden, deren Haltung, Geberden
und Verzerrungen niemals die Zuschauer mit Freude zu erfüllen ver-
fehlen. So entwickelten sich Typen, bildeten sich Charaktere von un-
gemeiner Lebenskraft, vielleicht die ersten Schöpfungen des menschlichen
Geistes.
Man ziehe den Schluss! Diese ostjäkischen Tafeln, dünn, flach,
buntscheckig und bekleckst, mit Hörnern und Fangzähnen, Kränzen
und Bändern, Fahnen und Pelzwerk verziert — dieser unten gespaltene
Pfahl, der Füsse und Beine darstellen soll, diese kleinen Scheusäler
aus Klappern und Glöckchen massen sich an, Ideen zu bedeuten. Diese
Stäbchen, neben denen unsere Pfefferkuchen als Wunder der Modellierung
erscheinen würden, diese Pfennige aus Zink oder Messing, diese sonder-
baren Pfähle, diese Strünke mit bizarren Knorren, diese Holzklötze, da
und dort durchlöchert und geschnitzt, sind die ersten Anfänge der
Bildhauerkunst.
Gleichzeitig mit der Form entwickelt sich die Idee. Aus den
Götzenbildern, den conventionellen Darstellungen der Abgeschiedenen,
den als Knirpse geschnitzelten Rosskastanien wurden National-Puppen,
denen das Volk seine Schmerzen und Hoffnungen anvertraute, von
denen es Hilfe und Beistand erbat, wie nach Art der Kinder, die von
ihrer Puppe Zuneigung verlangen. Gleichzeitig während man von diesen
Knirpsen zu wächsernen Masken, zu Formen aus Wachs, zum Ton,
dann zu Büsten aus Bronze und Marmor übergieng, hörte die Religion
auf, Götzendienst, nichts als Götzendienst zu sein.
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 20, S. 779, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-20_n0779.html)