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Seinerzeit hatten die Proto-Hellenen auch solche wunderliche
Schnurrpfeifereien erzeugt, aber sie verharrten nicht, sie erstarrten nicht
in den Anfängen, wie die Mehrzahl der anderen. Ihre Xoanen führten
zu einem Apoll, einer Minerva oder Venus von Knidos und von Milo.
— Aus welcher Larve entpuppte sich solch verklärter Schmetterling?
Mit einem noch frischen, unverbrauchten Vorstellungsvermögen
begabt, nehmen die Wilden in den Umrissen von Bäumen und Felsen
Gottheiten wahr. Steine, die sie aufklauben, Holzknorren, Höcker und
Auswüchse der Rinde, in allem erkennen sie bedeutsame Linien. Ein
Kiesel sagt ihnen: »Ich bin Dein Fetisch« und sie heben ihn auf. Sie
staunen nicht darüber, dass ein Zombi sich in Busch und Felsen ein-
quartiert und von da aus spricht, ermahnt, ermuthigt oder warnt.
Wenn der Neger durch die blosse Form leicht zu erregen ist, wird
er es nicht noch weit mehr sein durch eine kleine Kugel aus Thon
oder durch einen Span, aus dem man ein menschliches Gesicht
gestaltet haben wird?
Aber der durch sie hervorgerufene Eindruck und ihre Ähnlich-
keit mit den Zweifüsslern unserer Gattung stehen in keiner Beziehung
untereinander. Das bizarre Ding reizt die Aufmerksamkeit; der fremd-
artige Anblick ruft einen stärkeren Eindruck hervor, als man gerne
eingesteht. Die Gris-Gris der Congoneger und der Akagins, die Götzen-
knirpse der Ostjäken und Tschuraleken reizen zum Hinschauen, ob man
will oder nicht. Ihre Possierlichkeit ruft Gelächter hervor, wenn man
aber mit ihrem grotesken Äusseren vertraut ist, ändern sie ihren Charakter
und wirken durch eine unheimliche und düstere Anziehung. Einige
eifrige Christen schrieen, ein Dämon hause in diesem Greuel und
bringe Unglück.
Solche Neurotiker sind schwer unterzubringen. In allen Zimmern,
die mit Blumen oder Zweigen tapeziert sind, sehen sie Gesichter grinsen,
Ungeheuer wimmeln. Heute nennt man das Müdigkeit oder Über-
anstrengung des Geistes, einst galt es als dämonische Vision oder
himmlische Erleuchtung.
Ein Phantasma beherrscht meine schlaflosen Nächte, ein Phan-
tasma, das aus der Mauer heraustritt — ich gebe zu, dass in geringer
Entfernung ein Reflector seine Strahlen von unten nach oben durch
den Musselin eines Fensters und die halbe Öffnung einer Thüre herein-
wirft, die auf einen japanischen Fächer mit spiraligen Zeichnungen
fallen. Ein phosphorescierendes Leuchten scheint aus der dunklen Wand
hervorzugehen, es erhellt ein sich vorschiebendes Haupt, eine starke,
breite Brust, eine Hand, die einen schwarzen Stab hält, ein Gewand
mit bebenden Falten. Das Antlitz bewegt sich mit schmerzlicher An-
strengung vorwärts, aber der Leib kann über wer weiss welche un-
sichtbare Schranken nicht hinüber. Man hält es für einen Genius des
Lichtes in Gefangenschaft der Dunkelheit. Ich betrachte es mit ehr-
fürchtiger Neugierde. Und wenn ich in Fieber verfiele, würde es gewiss
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 20, S. 780, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-20_n0780.html)