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zu mir sprechen und mich vielleicht durch irgend eine Offenbarung
auszeichnen.
Um die Fascination, welche von den lächerlichen Masken und
possierlichen Götzen ausgeht, zu erklären, haben wir den Fall der
Détraqués und die eigenthümliche Geistigkeit der Karaiben und Kanaken
erwähnt, — wir hätten aber ganz einfach nur die kleinen Mädchen
unserer Umgebung anzusehen gebraucht. Wie oft sieht man sie leiden-
schaftlich an einer Puppe hängen, die nicht einmal menschliche
Gestalt hat! Sie besteht vielleicht aus einem Wund Flanell oder einem
zusammengerollten Lappen, der mit dem nächstbesten Faden gebunden
wird, um den Hals zu kennzeichnen und mit einem zweiten Faden
für die Taille. Wenn lieb Mütterlein oder die grosse Schwester drei
Punkte auf den Theil gezeichnet hat, der dann Gesicht heisst, einen
für den Mund, zwei für die Augen, so gilt Marie, Martha oder Marianne
schon für ganz hübsch, ja man muss sie für schön, für entzückend
erklären.
Und man hat oft beobachtet, dass diese merkwürdigen Puppen,
die die »Docken« heissen, die bevorzugten und zärtlich geliebten bleiben,
den wunderschönen, glänzend herausgeputzten Fräuleins zum Trotz,
die Papa und Mama sagen können, wenn man auf die Feder drückt,
die ihnen im Rücken steckt. Man möchte glauben, die Einbildungs-
kraft der Kleinen sei um so thätiger und mächtiger, je weniger man
sie anregt, und dass sie durch zuviel Nachhilfe träge und linkisch wird.
Bei Göttergestalten, wie bei den Docken handelt es sich nicht
darum, dass das Bildnis technisch schön sei, die Genauigkeit ist nicht
von Belang, man braucht sich weder um die Verhältnisse noch um
die Ähnlichkeit zu kümmern. Ah, was liegt an solchen Lappalien:
man muss das Bild mit gläubigen Augen schauen, die sehen was sie
wollen, mit Augen der Liebe, die die Illusion der Schönheit erwecken!
Das Geheimnis dieser wunderbaren Magie, die nicht aufhört,
die Kritiker zu verblüffen und die stumpfsinnigen, kurzsichtigen, Brillen
tragenden Menschen, dieses Geheimnis wurde eines Tags von einem
hinreissenden, kleinen Mädchen enthüllt. Sein Onkel, ein langweiliger
Mensch, hatte sie davon abbringen wollen, ihre Marie-Jeanne so
inbrünstig zu küssen. »Dummes Ding,« sagte er, »Deine Puppe ist ja
nicht lebendig!« »Meine Marie-Jeanne ist nicht lebendig? Weisst Du
denn nicht, wie lieb ich sie habe?«
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 20, S. 781, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-20_n0781.html)