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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 20, S. 782

Text

NOTIZEN.
POLITIK.

Der Czar und sein Minister
Murawiew haben erkannt, dass die
allgemeinen Consequenzen des Ab-
ganges Bismarcks von umwälzen-
der Natur sein müssen. Als der
Versuch einer paralysierenden That
erscheint die Proclamation des
Weltfriedens. Der Umsturz von
Oben soll also um die Wette laufen
mit dem Umsturz von Unten. Von
beiden feindlichen Seiten werden
nun dieselben Ideen der Abrüstung,
der Unnöthigkeit der Kriege und
ihrer socialen und wirtschaftlichen
Gefahren ins Treffen geführt. Die
Streitfrage reduciert sich aber mehr
und mehr, ob solche Ideen auf der
bisherigen gesellschaftlichen Basis
gedeihen können oder ob auch diese
geändert werden müsse. Nun haben
wir einen nachgebornen Muster-
regenten und einen posthumen
Musterstaatsmann. Die skeptische
Aufnahme, welche die seit Jahr-
hunderten genährte Hoffnung auf
ewigen Frieden heute allenthalben
gefunden hat, trotzdem sie von der
unvermuthetst hohen Stelle pro-
clamiert wird, beweist, dass die
heutige Zeit zu schwach geworden
ist, um eine Änderung der »Lebens-
weise« noch zu vertragen. Innere
Wirren haben während der letzten
Jahre in den Staaten so zersetzend
gehaust, dass die Allgemeinheit
gegen die Schrecken auswärtiger
Kämpfe stumpf geworden ist.

F. Schik.


THEATER.

Die Censur.

Die Direction des »Deutschen
Volkstheaters« hatte unlängst zu
einer Sonntag-Nachmittags-Vor-
stellung von »Bartel Turaser« der
Redaction der »Arbeiter-Zeitung«
sämmtliche Karten zur Verfügung
gestellt; Socialdemokraten und Ge-
nossinen füllten das Haus. Das
Stück erzielte bei blutig ernst ge-
meinten Stellen einen Lacherfolg;
ein Umstand, der Anlass gibt, aber-
mals die Gesichtspunkte, von denen
unsere österreichische Censur aus-
geht, zu kritisieren.

Das Bourgeoispuplicum nahm in
der vorigen Saison bei der Premiere
und bei den Reprisen dasselbe
Drama ernst und fühlte dabei Mit-
leid mit dem geschilderten Prole-
tariat. Dass die Urtheile über den
literarischen und sachlichen Wert
des Stückes getheilt sind, ist hier
irrelevant, jedenfalls enthält es
Scenen und Tiraden, über die der
Stift des Censors wiederholt gezuckt
und denen er nur mit Bedenken
freien Lauf über die Bühne ge-
lassen hat.

Dieser Thatbestand scheint viel-
leicht doch geeignet, der Polizei-
behörde endlich den richtigen Auf-
schluss zu liefern, wie sehr ihre
gehegten Befürchtungen socialen
Bühnenwerken gegenüber über-
trieben sind.

Bisher meinten unsere Behörden,
dass das Proletariat bei Gegen-
ständlichmachung seines Elends in
Ekstase gerathen und zu gefähr-
lichen Ausschreitungen verführt

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 20, S. 782, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-20_n0782.html)