Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 20, S. 783

Raimund-Theater Deutsches Volkstheater

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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 20, S. 783

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NOTIZEN. 783

würde. Gerade das Gegentheil ist
der Fall. Nichts ist den Arbeitern
abgedroschener als die Scenen, die
sie tagtäglich bei sich zuhause und
in den Stuben ihrer Genossen
sehen, und sie lächeln über die
Naivetät, die ihnen zumuthet, zu
derlei noch ein Theater zu be-
suchen. Der Censor müsste das
Elend im Leben, welches heute
allein aufreizt, unter seinen Stift
nehmen und streichen, den Besuch
von Arbeiterwohnungen, als unbe-
fugten Schaustellungen, untersagen
und den Tratsch der Arbeiterweiber
untereinander censurieren. Jedes
Haus, wo Arbeiter wohnen, ist heute
ein Vereinshaus des Elends.

Ein Arbeiter, der für sein Geld
in ein Theater geht, sucht sich
in den seltensten Fällen ein Stück
aus, das in seinem Milieu spielt.
Das kennt er von vorneherein
auswendig. Derlei Werke reizen
höchstens das gewöhnliche Bour-
geoispublicum zu Mitleid und
Achtung für die Enterbten auf;
nur diese letztere Wirkung allein
also schwächt der Stift des
Censors ab oder verhindert sie
gänzlich.

Conservativen Stücken gegen-
über, die im alten Gesellschafts-
bett ruhig dahinfliessen und auf
die durch keine Spalte das schiefe
Licht der Zukunft fällt, ist der
Censor sorglos. Gerade dies sind
aber Darbietungen, bei denen der
Socialdemokrat sich mit Ingrimm
mästet, die in ihm die stärkste
Gährung erzeugen. Die Leute
laufen hier fein gekleidet herum,
bewegen sich in fürstlich einge-
richteten Gemächern; und selbst
dann, wenn in modernen Stücken
das innere Elend äusserlich wohl-
situirter Culturmenschen aufscheint,

kann darin nur der sich selbst
zersetzende Wohlstand erblickt
werden, der dem Arbeiter versagt
ist, aber auch dem Begüterten
nicht zum Heile gereicht. Alle die
Stücke, die seit Jahrzehnten, von
der Staatsbehörde unbeanstandet
über die Bretter gehen, sind also
gerade so beschaffen, dass sie dem
Proletarier aufregende Aufschlüsse
vermitteln, wie es in den Kreisen
derer zugeht, die er hasst.

Die Censur müsste, wenn sie
an der vormärzlichen Vertuschungs-
maxime bei den geänderten geisti-
gen Communicationsverhältnissen
in der Welt consequent festhalten
wollte, weit eher das Meiste von
dem, was bisher auf der Bühne
erlaubt war, verbieten, und das
bisher Verbotene freigeben.

F. Schik.

Die Langeweile ist gekräftigt aus
den Ferien wieder in die Wiener
Theater eingerückt. Im Raimund-
theater
beeilte man sich, um
der sommerlichen Insectenzeit ge-
recht zu werden, einen Schwank
»Wespen« von Oeribauer zur ersten
Aufführung zu bringen. Die Be-
sucher dieser Vorstellung hatten
es sich selbst zuzuschreiben, wenn
sie übel zugerichtet nach Hause
kamen. — Die Direction des
Deutschen Volkstheaters
glaubte, dass die tropische Hitze
die Darsteller dem Verständnisse
eines italienischen Dichters näher
bringen würde. So erlebte Goldonis
»Mirandolina« eine Neuaufführung.
Aber auch bei 25 Grad im Schatten
ist die Retty noch immer keine
Duse und Herr Giampietro bleibt
nach wie vor ein Mitteleuropäer.
Zudem war das Lustspiel von
Emil Pohl »frei« bearbeitet. Das

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 20, S. 783, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-20_n0783.html)