Text
Ein Gespräch
von
RICHARD LE GALLIENNE.
Aus dem Englischen übersetzt von Wilhelm Schölermann.
An einem hellen Augustnachmittag standen auf einem hohen,
stillen Gipfel der Alpen ein Mann und ein junges Weib und sprachen
über Gott. Sonne, Schnee und Einsamkeit umgaben sie mit einem
leuchtenden Schweigen in vielen Farben. Die starke Sonne, der reine
Schnee, der weite, milde Friede. Während das Weib sprach, erfüllten
diese Herrlichkeiten ihre Seele wie sichtbare Offenbarungen des höchsten
Wesens, das zu vertreten und zu vertheidigen ihr Gefährte sie an
dem Nachmittag herausgefordert hatte.
Beide hatten in ihrem Leben die Hand Gottes gefühlt, uner-
klärlich, muthwillig behauptete der Mann, strafend; aber nur das
Weib erkannte noch immer Sein Antlitz. Der Schlag, der den Mann
von Gott hinweggetrieben, gebrochenen Herzens und lästernd, führte
das Weib wie mit unerklärlicher Anziehungskraft näher zu Ihm hin.
»Sollte der Schmerz dennoch läutern können?« dachte der Mann,
als er in ihr klares und seltsam heiteres Gesicht blickte.
In früherer Zeit hätte er keinen Augenblick gezögert mit der
Antwort auf solche Frage. Der aus seinem persönlichen Frieden
geborene, oberflächliche Optimismus, wie er jetzt zu sagen pflegte,
erklärte früher mit verdächtiger Leichtigkeit die Reinigung durch
Schmerz als eine Aussöhnung der Liebe Gottes mit dem ewigen
Leidensweg des Menschen. Er hatte so anmuthig und belehrend
gesprochen vom Leiden wie von einer nothwendigen Bedingung des
Wachsthums, dass er in seinem Eifer ganz danach zu fragen vergass
— weshalb denn eine so grausame Bedingung an die unfreiwillige
Existenz des Menschen geknüpft sein müsse. Wäre es einer liebevollen
Allmacht nicht ebenso leicht gewesen, das Wachsthum zu einem
Kinde der Freude zu machen?
Damals hatte ein mit dem Gram vertrauterer älterer Freund ihn ge-
fragt: »Ist es denn wahr, dass das Leid stets oder wenigstens oft eine reini-
gende Wirkung in uns hervorbringt anstatt vielmehr eine erniedrigende?«
Unser Theoretiker philosophierte aber über den Schmerz unentwegt
weiter, weil er ihn nur aus Büchern — oder aus den Erfahrungen
seiner Freunde — kennen gelernt hatte. Noch war er nicht mit dem
rauhen Griff der Wirklichkeit in Berührung getreten.
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 21, S. 801, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-21_n0801.html)