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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 21, S. 800

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formlos ist, kann in sich den Keim der Zukunft tragen. Wenn
aus diesen Kreisen — freilich primitive — künstlerische Ver-
bindungen zu den Ideenkreisen jener ersten Epoche alter Wiener
Kunst gesucht werden, deren Entwicklung in den Sechziger-Jahren
abgeschnitten worden ist, so könnten diese Bestrebungen zu den
Uranfangen der Wiener Musik und des Wiener Liedes, an welchem
in den letzten Jahrzehnten so furchtbar gesündigt worden ist,
zurück und weiter führen.

Zur gleichen Zeit, da in Wien alles in Krakauer’schen
Melodien schwelgte, begann in einem kleinen Beisel am Boulevard
Rochechouart Aristide Bruant seine grossen Hymnen des Elends
und jeder Noth der Menschheit zu singen, Marcel Legay com-
ponierte seinen »Chanson du semeur« und das Moulinrouge-Lied,
Poncin seine »Soularde« Während in Paris aus dem alten
Chanson das neue Volkslied entstand und die Klänge der Mar-
seillaise einer neuen Zeit zum erstenmale ertönten, sassen in Wien
beim Heurigen Prinz und Fiaker brüderlich trunken beisammen
und sangen zum dünnen Klang zweier Violinen und einer
Harmonika:

»Menschen, Menschen san mir alle,
Fehler hat ein jeder gnua,
’s können ja nicht alle gleich sein,
Liegt schon so in der Natua!«


Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 21, S. 800, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-21_n0800.html)