Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 21, S. 799
Das Wiener Couplet (Graf, Dr. Max)
Text
Ein geschickter Rattenfänger hatte diese ganze Wiener Mas-
kerade in Musik gesetzt. Das alte Wien hatte als seinen grossen
musikalischen Regisseur: Lanner. Dieses neue Wien hatte eben-
falls seinen Lanner. Bezeichnenderweise hiess er: Krakauer.
Wie in den Schnitzler’schen Dramen die Sentimentalität des
Nichtwieners nach dem Wienerischen in ihrer vornehmsten Form
zu Theaterstücken geworden ist, ist bei dem Nichtwiener Krakauer
die Sentimentalität nach dem Wienerischen in ihrer ordinärsten
Weise Couplet geworden. Seine Melodien mussten jene Gesellschaft,
welche sie bei ihrer verwundbarsten Stelle: jener Sehnsucht nach
dem Wienerischen, packten, im Nu gefangen nehmen. Und wenn
Krakauer in jener Wiener Sentimentalität hätte ein Geschäft machen
wollen, so hätte er den wienerisch-sentimentalen Ton nicht mit
mehr psychologischer Berechnung treffen können. Seine sogenannten
»wienerischen« Melodien haben mit einer solchen hochstaplerischen
Sicherheit alle verlogenen Sehnsuchten jener Gesellschaft nach dem
Wienerthum und seinen Decorationen: dem Steffel, der Wienerin,
der Donau etc. in Musik gesetzt, dass sie in die ganze Welt
hinausflogen als »Wiener Couplet«. Und es gab eine Zeit, da
die ganzen Wiener Coupletfabrikanten ihre Melodien auf den Ton
des Mannes aus Krakau stimmten.
Wie gross die suggestive Kraft und die musikalische
Begabung Krakauers waren, zeigte sich erst, als er, ein junger
Mann, starb. Mit ihm fiel diese ganze Form des Wiener Couplets,
welche ein Jahrzehnt lang alle Wiener und ausländischen Bühnen
beherrscht hatte: die unrühmlichste, unsauberste, verlogenste,
psychologisch aber interessanteste Form des Wiener Couplets.
Seitdem dieser grosse Musiker des hochstaplerischen Wiener-
thums aufgehört hat, seine Lieder zu singen, hört man in Wien
nur internationales Tingeltangel: die Barrison-Lieder, spanische
Melodien, Funiculi-funicula — dem Geschmack jenes kosmo-
politischen Wienerthums entsprechend, welches an Stelle der alten
Wiener Glacis die stillose Ungeheuerlichkeit des römischen,
griechischen, gothischen und Renaissance-Bauten-Kranzes der Ring-
strasse gesetzt hat.
Heute, da jene Gesellschaft der Siebziger-Jahre ihre politische
Gewalt verloren hat, stehen wir in einem grossen socialen Um-
wandlungsprocesse in der Wiener Gesellschaft. Neue grosse
Schichten drängen herauf, und was jetzt noch ungestaltet und
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 21, S. 799, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-21_n0799.html)