Faksimile

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 21, S. 798

Text

798 GRAF.

einmal eine Reihe von heiteren Liedern, von höchstem, intensivsten
Leben erfüllt, voll von leichtem Blut und lebhaftem Athem und
hat viel Heiterkeit und Lachen um sich her verbreitet. Männer
von Geist und Witz, wie Nestroy, waren seine ersten classischen
Interpreten; das alte Wien mit seinen Glacis und Kaffeegärtchen,
und seiner engen begrenzten, vom Takte Lanner’scher und Strauss-
scher Walzer bewegten Welt war sein Podium. Deshalb dürfen
wir nur sagen, dass es einmal eine Periode des Wiener Couplets
gegeben hat, von der ihre Zeitgenossen sagen, dass es Ähnliches an
Witz, Heiterkeit und Vergnügen in unserer Zeit nicht mehr gäbe.

Die Verschiebung, welche von der Mitte der Sechziger-Jahre
an im Besitzstand der Wiener Gesellschaft eingetreten ist, hat eine
neue Form des Wiener Couplets zur Blüte gebracht, welche eine
sehr sonderbare und eigenthümliche Geschichte hat. An die Stelle
der alten, beschränkten und liebenswürdigen bürgerlichen Gesell-
schaft des alten Wien tritt in den Jahren 1860—1873 eine ganz
neue Gesellschaft des Finanzadels, der industriell und geschäftlich
Arrivierten und der mit diesen verbundenen alten Wiener Aristo-
kratie. Eine Gesellschaft von Reichthum, kosmopolitischer Haltung,
Vergnügungssucht und wie jede Emporkömmlingskaste mit Energie
darauf bedacht, von dem neugewonnenen Boden Besitz zu nehmen.
Je weniger sie durch Cultur und Tradition mit dem Wiener Boden
zusammenhieng, desto grösser war die Sehnsucht, sich rasch alle
Merkmale des Wienerthums anzueignen. Es war das die Zeit des
Heurigenliberalismus. Aristokratie, Finanz- und Geschäftsadel zog
hinaus zu den Heurigenschenken, verbrüderte sich mit Kunst-
pfeifern und Natursängern, zog Kleid und Stösser des Fiaker-
kutschers an, und von den höchsten Kreisen an war alles stolz, mit
diesen edelsten Vertretern des Naturwiener-Cavalierthums Freund-
schaft zu schliessen. Da entstanden die wundervollen Verse, welche
in alle Welt als Wiener Couplet hinausflogen, vom goldnen Wiener
Herzen, von der goldnen Wienerin, vom goldnen Stefansdom,
von der goldnen Gemüthlichkeit, und wenn in diesem goldenen
Wiener Dusel vom Prinzen bis zum Fiaker alles betrunken war,
dann ertönte der herrliche Rundgesang:

»Menschen, Menschen san mir alle,
Fehler hat ein jeder gnua,
’s können ja nicht alle gleich sein,
Ist schon so von der Natua.«

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 21, S. 798, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-21_n0798.html)