Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 21, S. 797
Das Wiener Couplet (Graf, Dr. Max)
Text
Von Dr. MAX GRAF (Wien).
Von der ältesten Periode des Wiener Couplets dürfen wir Leute
von heute gar nicht sprechen. Unsere Eltern und Grosseltern
erzählen mit Entzücken von der alten Komikergeneration und dem
gesungenen Altwiener Witz, und wir müssen uns bescheiden, dies
zu registrieren.
Ein grosses Kunstwerk der ältesten Zeit können wir in das
lebende Bewusstsein unserer Tage überführen: wir können es
lebendig machen, mit Blut füllen, und seine Eindrücke wiedergeben.
Ein Couplet, das einer anderen Generation angehört, ist ein todtes
Ding. Die Schöpfung einer Laune des Tages, eine tönende Capriole
des Geistes, aus überflüssigen, überschüssigen Kräften erzeugt,
concentriert es all sein Leben in einem Augenblick, wirkt und
verschwindet. So lange es lebt, ist es wohl die eindringlichste
Kunst; ganz gesättigt von allen Stimmungen des Tages, die
schnellste Auslösung aller Spannungen des momentanen Geistes.
Vergeht aber der Tag, der es lebendig gemacht hat, dann verraucht
es wie ein Witz, dessen Pointe alle kennen Und noch eines:
ohne Interpreten ist das Couplet ein Häuflein todter Buchstaben
und Noten. Es bedarf — als einzige Form der modernen Kunst —
des Rhapsoden, des Troubadours, des Skalden. Seine Melodie
wird erst verständlich, wenn sie von der Harmonie der Geste,
der Augen, des Körpers begleitet wild. Die Worte erhalten Sinn,
Rhythmus. Der ganze Körper Blut, Athem und Sinnlichkeit. Selbst
die Pausen erhalten Beredsamkeit und Stimme Ohne diesen
höchsten Act des Lebens, die Blut- und Fleischwerdung im Vor-
trage eines Rhapsoden (oder einer Rhapsodin) ist ein Couplet
so todt wie die grossen griechischen Couplets: die Homer’schen
Epen
Wir dürfen deshalb über das älteste Wiener Couplet nicht
voreilig sprechen. All das Zeug, das uns heute so armselig
läppisch, so dumm-vergnügt, so paralytisch-witzig vorkommt, war
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 21, S. 797, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-21_n0797.html)